Wissbegier ist eine Droge
Erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält! Unser Drang, die Welt zu verstehen, hat uns von den Bäumen in die technisierten Städte gebracht. Woher diese Neugier? Worin liegt ihr Nutzen für den Einzelnen?
Einige Tiere erkunden in ihrer Jugend spielerisch ihre Umwelt. Doch selbst bei unseren nächsten Verwandten – den Schimpansen – endet diese Phase, wenn sie erwachsen werden. Nur der Mensch ist fähig, ein Leben lang zu lernen. Wir interessieren uns für die neueste Technik, intime Geheimnisse unserer Nachbarn und Katastrophenmeldungen aus aller Welt. Unsere Neugier reizt alles, was
- neuartig, sensationell und exotisch ist
- von Veränderungen berichtet oder sie ankündigt
- unerwartete Entwicklungen beschreibt
- nur unter Schwierigkeiten in Erfahrung zu bringen ist
- Wut, Freude, Mitleid und andere Gefühle weckt
- persönliche Auswirkungen auf das Leben des Publikums hat.
Doch solche Ereignisse gibt es auch im Leben von Vögeln oder Schimpansen. Warum reagieren wir mit Neugier, sie aber nicht? Was ist in unserem Gehirn anders? Schon vor einem Vierteljahrhundert entdeckten Neurologen im Sehzentrum des Hirns ungewöhnlich viele Andockstellen für Endorphine, die berühmten Glückshormone. Am höchsten ist ihre Zahl, wo wir komplexe und abstrakte Informationen verarbeiten. Der Neurologe Irving Biedermann aus Los Angeles unternahm 2006 Tests mit Freiwilligen uns fand heraus: Bei neuen und überraschenden Informationen werden die Hirnzellen durch Glückshormone am stärksten aktiviert.
Betrachtete ein Teilnehmer ein faszinierendes Bild zum ersten Mal, sprachen bestimmte Nervenzellen besonders stark an. Zugleich empfand der Betrachter ein Hochgefühl. Sah er das Bild zum zweiten oder dritten Mal, verstärkte sich die Verbindung der angesprochenen Nervenzellen – ein Lerneffekt trat ein. Mit jeder Wiederholung ließ jedoch das Hochgefühl nach, eine Folge der Gewöhnung. Vertrautheit minderte die Euphorie.
Den Effekt kennen wir alle. Gewöhnung schafft ein Gefühl von Sicherheit, aber auch die Gefahr von Langeweile. Dann suchen wir nach neuen, aufregenden Informationen, um uns erneut den Kick der Überraschung und Sensation zu verschaffen. Die Forscher vermuten, dass dieser Mechanismus nicht nur beim Sehen, sondern auch bei jeder anderen Art von Information auftritt.
Obwohl Routine Sicherheit gibt und Ängste vermindert – wir brauchen auch Herzklopfen, Ungewissheit und die Herausforderung des Unbekannten. Das hat inzwischen auch die Medizin bestätigt. Wer sein Leben lang neugierig bleibt, besitzt die höhere Lebenserwartung. Seit einigen Jahren weiß die Wissenschaft, dass der Mensch lebenslang neue Nervenzellen bilden kann – aber nur, wenn er neue Dinge erlernt. Wer nur die Fähigkeiten gebraucht, die er als Kind gelernt hat, bildet keine neuen Nervenzellen mehr. Doch wer im späteren Alter eine neue Fremdsprache, ein Musikinstrument oder Jonglieren lernt, regt seine Nerven zum Wachstum an. Da bei Demenz viele Nervenzellen verloren gehen, beugt spätes Lernen Alzheimer vor.
Wichtig ist: Nicht jedes Lernen erzielt diesen positiven Effekt. Es kommt darauf an, etwas Neuartiges zu lernen. Wer sein Leben lang schon zehn Fremdsprachen gelernt hat, und im Alter eine elfte dazu lernt, wird nur wenig profitieren. Ganz anders, wenn er statt dessen anfängt zu musizieren. Dann fangen bislang vernachlässigte Hirnbereiche an zu wachsen. Zugleich erlebt er das Hochgefühl einer fremdartigen Erfahrung.
Schauen wir jedoch, was am stärksten die menschliche Neugier reizt, so sind das weder die neueste Wissenschaft oder ein unbekanntes Kunstwerk. Am meisten reizt uns Klatsch und Tratsch. Die kleinen Geheimnisse unserer Mitmenschen und die Skandale der Prominenten bleiben am besten in menschlichen Gedächtnis haften. Das erklärt, warum ein großer Freundeskreis die Lebenserwartung ebenso verlängert wie Fitness. Wer viele Kontakte hat, erfährt ständig Neues aus dem Leben seiner Mitmenschen. Er nimmt neugierig Anteil. Nicht nur sein Gedächtnis, sondern auch seine Gefühlswelt bleiben in Bewegung,
Allzu neugierige Menschen können lästig wirken. Niemand möchte alle seine Geheimnisse preis geben. Andererseits freuen wir uns, wenn sich jemand für uns interessiert. Dank Internet und Talkshows war es noch nie so einfach wie heute, seine Neugier zu befriedigen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die durchschnittliche Lebenserwartung Jahr für Jahr steigt. Denn obwohl wir immer ungesünder leben, werden wir immer älter. Vermutlich gleicht die Neugier der Senioren die Folgen von Bewegungsmangel und Übergewicht aus. Die Rentner von heute warten nicht mehr geduldig im Fernsehsessel auf ihr Lebensende. Sie unternehmen Kreuzfahrten und chatten im Internet. An den Universitäten steigt die Zahl der über sechzigjährigen Zuhörer. Also bleiben Sie schön neugierig!
Veröffentlicht im August 2006 © by www.berlinx.de
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