Wie viel Origi­nalität brauchen wir?

Schrille Outfits, ausge­fallene Hobbys, schrä­ge Mei­nungen – was unter­nehmen wir nicht al­les, um als ein­zig­ar­tige Persön­lichkeit auf­zu­fal­len! Nie­mand will ei­ne Ko­pie sein. Wa­rum ei­gent­lich nicht?

Jeder von uns ist eine Kopie seiner Eltern. Etwa die Hälfte der Gene stammt vom Vater, die andere Hälfte von der Mutter. Einzigartig ist nur die Mischung. Sie unterscheidet Sie von der Mischung Ihrer Geschwister. Sollten Sie eine Ausnahme sein und tatsächlich ein Gen besitzen, was weder vom Vater noch von Mutter stammt – unser Beileid! Wenn Sie Glück haben, ist die Neuerung harmlos. Es könnte aber auch eine krankmachende Mutation sein. Eine verbessernde Mutation ist dagegen so selten wir ein Sechser im Lotto.

Zu 99,9 Prozent kopiert die Natur sich selbst. Neuerungen sind selten und zum größten Teil gleich wieder ausgestorben. Da sind wir Menschen schneller. Unser Sprung vom Jäger­dasein zum Industrie­zeitalter dauerte nur wenige tausend Jahre. Doch auch beim Menschen sind revolu­tionäre Neuerungen die Ausnahme. Über Jahr­hunderte lebten Bauern ihre alten Traditionen. Nur gele­gentlich rollte mal ein Kriegszug vorbei.

Und heute? Zwingt uns die Globa­lisierung nicht zu ständigem Erneuern? Von wegen! Veränderungen sind nur die Spitze des Eisberg. Der dänische Philosoph Kierkegaard schrieb: „In der Tat, was wäre das Leben ohne Wiederholung? Wer möchte schon eine Tafel sein, auf die die Zeit jeden Augenblick etwas Neues schreibt?“ Unter der Oberfläche der Geschichte schwimmt die Hauptmasse des Eisbergs, das ewig Gleich­bleibende, die Wieder­holung, das Muster, die Kopie.

Im Zeitalter des Handwerks war jedes Möbelstück ein Original. Mit der Industrie begann der Siegeszug der Kopie. Die Handwerker teilten sich in Ingenieure und Produzenten. Die Erfinder sorgten für das Neue, die Arbeiter am Fließband wiederholten es in tausendfach identischen Exemplaren.

Die Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts erkannten die Gefahr. Sollte auch der Mensch nur noch ein Stück Mechanik sein? Der Aufklärer La Mettrie bejahte diesen Gedanken in seinem Buch „Der Mensch eine Maschine“. Der Romantiker E.T.A. Hoffmann beschrieb in seinen Geschichten mechanische Puppen, die vortäuschten, Menschen zu sein. Mary Shelley erfand 1818 in einer Schreckens­vision den Doktor Franken­stein, der Leichenteile zusammennähte und seinen künstlichen Menschen mit Elektrizität belebte.

Kunstwerke waren meist Originale, solange sie selten waren. Solange die Massen sich keine Theaterkarten, Bücher oder gar eigene Gemälde leisten konnten. Im 20. Jahrhundert begann auch in der Kunst das „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ (Walter Benjamin, 1936). Kino, Schallplatten, Zeitungen, Taschen­bücher und Fotos bewiesen: Nicht Einzig­artigkeit, sondern die Kopie ist das Erfolgs­rezept der modernen Kunst.

Das rief Widerstand hervor. Während im Mittel­alter die Künstler bescheiden lebten und oft anonym blieben, begann im 19. Jahrhundert der Genie- und Starkult. Hinter den wenigen Berühmt­heiten breitete eine namen­lose Industrie von Technikern und Hilfskräften aus. Sie sorgen dafür, dass wir den Star nur als Kopie kennen – von DVDs, von Covern und Titelblättern. Fans, die ihrem Idol nacheifern, kopieren in Wahrheit nur die Kopie (das Bild oder die Stimme ihres Stars).

Seitdem lassen sich Kopien einteilen in Originale (für die Sie Geld bezahlen) und kopierte Kopien (kostenlose Raubkopien). Kopieren wird selbst zu einem Erfolgsrezept. Madonna kopierte 1984 im Video „Material Girl“ Marilyn Monroe. Retro-Wellen verhelfen Modelabels und zahlreichen Nachahmer-Bands zu einem sicheren Einkommen. Hollywood setzt schon lange auf die Selbstkopie. Warum ständig neue Filmideen erfinden, wenn man „Stirb langsam“, „Mission Impossible“, „James Bond“ oder „Fluch der Karibik“ mit Teil 2, 3 und so weiter fortsetzen kann?

Das Kopieren hat eigene Berufsgruppen hervorgebracht. Beim Film sind es Stuntmen und Doubles. (Im Mittelalter war ein „Double“ eine lebensgroße Puppe, auf der ein Ritter seine Rüstung ablegte, wenn er gerade mal nicht auf Beutezug war.)  Einige Pharmakonzerne leben allein vom Kopieren erfolgreicher Medikamenten – sogenannter Generika. Internet und Elektronik erlauben es jede Art von Bild, Text und Ton in kopierbare Dateien zu verwandeln.

Warum dann die Empörung über Plagiate? Nicht, dass einige hochrangige Politiker ihre Doktorarbeiten abgeschrieben haben (oder haben abschreiben lassen), ist das Ärgerliche. Sondern dass sie behauptet haben, es handle sich um Originale. Sie haben nicht verstanden, dass es längst modern ist, ein Second-Head-Denker zu sein. Wer erwartet heute noch von einem Politiker, originell zu sein? Längst gilt in der Wissenschaft: Schreibst du von einem ab, dann ist es ein Plagiat. Schreibst du von einem vielen ab, ist es Forschung.

Diesen Gedanken haben wir natürlich auch nur kopiert – von der Schriftstellerin Isabel Allende. Er stammt aus ihrem 1998 bei Suhrkamp erschienenen Buch, „Aphrodite. Eine Feier der Sinne“. Sie sehen, wir nennen unsere Quelle. Wir schmücken uns nicht mit fremden Federn.

Buchtipp:
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp Taschenbuch, € 5,–

veröffentlicht im März 2012 © by www.berlinx.de

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