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Die Kunst des argumen­tativen Schlag­abtauschs

Geschliffen argumen­tieren, mit Witz und Intel­ligenz – eine ange­borene Gabe oder eine geheimnis­volle Rede­technik?
Egonet erklärt, was dahinter steckt.

Im antiken Grie­chen­land ver­ban­den die Sophisten philoso­phische Weisheit cleverem Argumen­tierens. Wer klug reden kann, entwickelt geistige Wendigkeit und originelle Ideen. Ihre dialektische Rhetorik sollte die Dinge von allen Seiten beleuchten. Sie sollte Position und Gegenposition in einen Wettstreit der Ideen verwickeln. Wie das funktioniert, möchten wir an einem Beispiel zeigen.

Wir wählen das aktuelle Thema „Über­wachungs­staat“: Alle kontrollieren, um Terroristen zu entlarven? Oder im Namen der Freiheit Risiken in Kauf nehmen? Der dialektische Schlagab­tausch zwischen einem ängstlichen Bürger und einem Philosophen könnte so ablaufen:

Bürger: Ich bin für Kontrolle, wenn die Überwachung unserer Sicherheit dient.
Philosoph: Wen sollte der Staat überwachen lassen: Nur die, die sich schon verdächtig gemacht haben oder die unauf­fälligen, angepassten Bürger?
Bürger: Was für eine Frage! Die Verdächtigen natürlich.
Philosoph: Nein, die Angepassten, denn deren Gedanken und Aktivitäten sind noch unbekannt. Die Verdächtigen ist längst aktenkundig, wozu sie also noch ausforschen? Bürger: Dann also die Angepassten.
Philosoph: Nein, denn von den Angepassten geht keine Gefahr aus. Sie mögen denken, was sie wollen. Sie werden nichts gegen die bestehende Ordnung unternehmen. Wen also wird die Organisation überwachen?
Bürger: Du meinst, dass alle Überwachung überflüssig ist?
Philosoph: Im Gegenteil. Man muss beide Gruppen überwachen. Man kann nicht von vornherein wissen, von wem die größere Gefahr ausgeht. Ein entschlossener Terrorist zieht viele Sympathisanten an. Umgekehrt können viele Unzufriedene gefährlich werden, wenn sich ein Entschlossener an ihre Spitze stellt.
Bürger: Traue niemandem. Sag ich doch.
Philosoph: Nein, denn wolltest du alle überwachen, brauchtest du für jeden Bürger seinen eigenen Überwacher. Über so viele Leute verfügt nicht einmal das reiche Deutschland. Und wer überwacht die Überwacher? Denk an die V-Leute! Der Geheimdienst kann selbst zum Sicherheitsrisiko werden.
Bürger: Soll das heißen, gegen die Terroristen sind wir machtlos?
Philosoph: Es bleibt noch die Möglichkeit, dass die Bürger sich gegenseitig überwachen.
Bürger: Eine Bürgerwehr. Da wäre ich sofort dabei.
Philosoph: Wirklich? Dann müsste jeder fürchten, von seinem Nachbarn denunziert zu werden. Um dem zuvorzukommen, wird jeder sich beeilen, selber als erster seinen Nachbarn bei den Behörden verdächtig zu machen.

Egal, welche Meinung am Ende Ihre Sympathie gewinnt – diese Form der Gesprächs­führung erlaubt es, das Problem von allen Seiten zu beleuchten. Die dialek­tische Rhetorik ruht auf vier Säulen :

Viele Perspektivwechsel: In der klassischen Vortragstechnik bezieht der Redner einen festen Standpunkt und verteidigt ihn gegen jede andere Sichtweise. In dialektischen Rhetorik  beleuchtet man nacheinander das Für und Wider aller denkbaren Standpunkte. Es sind mindestens vier Perspektiven möglich: Dafür, Dagegen, Sowohl als Auch, Weder Noch.

Argument umkehren: Statt zu wider­sprechen, zieht der Sprecher aus dem Argument eine Konsequenz, die es in sein Gegenteil verkehrt. Am Anfang unseres Beispiels wollte der Bürger die Terror­verdächtigen überwachen lassen. Der Philosoph sagt: Wozu? Deren Denken kennen wir schon. Das Risiko liegt bei den übrigen.

Die Konsequenz aufzeigen: Wenn wir das so machen, wie Sie wollen, haben Sie sich auch überlegt, welche Folgen es für Sie nach sich zieht? In unserem Beispiel: Wenn jeder jeden überwacht – dann überwachen nicht nur Sie Ihren Nachbarn, sondern Ihr Nachbar überwacht und denunziert auch Sie.

Gedankenexperiment: Chemiker experi­mentieren mit realen Stoffen, der Philosoph mit Gedanken. Es beginnt immer mit: „Stellen wir uns folgende Situation vor. Wie würden sich die Akteure verhalten? Was käme dabei heraus?“

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veröffentlicht im April 2012 © by www.berlinx.de

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