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Die Psychologie des menschlichen Abgrenzungsbestrebens

Die größten Bauwerke der Menschheit waren weder der Petersdom noch Empire State Building oder ein Fernsehturm, sondern die Chinesische und die Berliner Mauer. Selbst Stefan Raabs Nummer-Eins-Hit „Maschendrahtzaun“ zeigt, daß Grenzziehungsanlagen auf uns immer noch ein unbewußte Faszination ausüben.

Der theoretische Kopf der Arbeiterbewegung, Karl Marx, glaubte einst, daß mit dem Weltsieg der proletarischen Revolution alle Nationalstaaten und privaten Grundstücke verschwinden würden. Und damit auch alle Arten von Grenzen. Für ihn waren Grenzen und Privateigentum das Ergebnis schlechter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Genau das Gegenteil trat ein. Das Verschwinden der Berliner Mauer wurde wettgemacht durch neue Zäune, Mauern und Hecken um zahlreiche neue und alte Privatgrundstücke in den neuen Bundesländern. Je dichter ein Landstrich besiedelt ist, desto eher scheitert ein Spaziergang querfeldein an einem unvermutet auftauchenden Zaun, der Felder, Wiesen und Wälder in Parzellen aufteilt. Rotkäppchen hätte heute kaum noch eine Chance vom Wege abzukommen. Ein Zaun würde den offiziellen Fußweg von dem naturgeschützten Wolfsrevier abtrennen.

Marx konnte noch nicht wissen, daß unserem Abgrenzungsbedürfnis ein angeborenes Territorialverhalten zugrunde liegt. Wir besitzen wie die meisten Säugetiere in unseren Erbanlagen das Bedürfnis, den uns umgebenden Raum in zweierlei Hinsicht in „mein“ und „dein“ zu teilen.

1. Distanzzonen: Über Körperdistanzen berichteten wir schon vor über einem Jahr in unseren drei Beiträgen über Körpersprache. Hier noch einmal das Wichtigste in Kürze: Man kann alle sozialen Tiere einteilen in Kontakt- und Distanztiere. Erstere rücken in der Gruppe so eng zusammen, daß sie einander berühren. Die meisten Tiere, und auch der Mensch, sind Distanztiere. Sie halten im Normalfall einen arttypischen Abstand zueinander ein, der von der Situation und der sozialen Beziehung abhängt. Um zeitweise auf Berührungsnähe zusammen zu rücken, etwa bei der Sexualität absolvieren die Individuen zuvor typische Rituale des Distanzabbaus wie das Balzverhalten. Das Distanzverhalten dient dem individuellen Schutz vor Aggressionen von Artgenossen, aber auch der Herausbildung von selbständigem Verhalten. Schon Kleinkinder verhalten sich unterschiedlich zu ihren Mitmenschen, je nachdem, in welcher Entfernung sie sich zueinander befinden. Und sie richten die Entfernung zum Mitmenschen danach aus, wie vertraut oder wie fremd er ihnen ist. Dieses Distanzverhalten wird im Erwachsenenalter nicht nur beibehalten, sondern sogar noch weiter verfeinert.

  • Bis 60 Zentimeter Abstand befindet man sich in der Intimzone des anderen. Eine solche Nähe signalisiert Vertrautheit, meist ein Zeichen, das zwischen beiden schon eine längere Beziehung besteht. Schauen sich die beiden außerdem noch lange (mehr als drei Sekunden) in die Augen, hat man es garantiert mit Verliebten zu tun. Unsere Kultur erfordert es in bestimmten Situationen, daß auch völlig Fremde einander so nahe kommen: in der U-Bahn oder im Fahrstuhl. Sie empfinden dabei ein Unbehagen und gleichen die erzwungene körperliche Nähe durch Vermeidungsverhalten in den übrigen Körpersignalen aus: Man meidet Blickkontakt, schaut auf den Boden oder in eine unbestimmte Ferne (man „über“-sieht einander im wörtlichen Sinne), dreht sich soweit wie möglich vom Nachbarn weg, bewegt sich möglichst wenig und baut seine Tasche als eine Art Barriere auf. Wenn Sie gerade eine Bekanntschaft schließen: vermeiden Sie es, dem andern so nah auf die Pelle zu rücken. Am Anfang eines Kontakts wirkt zu große Nähe aufdringlich. Der andere rückt automatisch zurück, um den Abstand zu vergrößern.
  • Zwischen 60 Zentimetern und 1,20 Meter befinden wir uns in der persönlichen Zone. Es ist der Abstand den gute Freunde und Bekannte zueinander einnehmen, auch von Familienmitglieder bei alltäglichen Verrichtungen. Wenn Sie aus dieser Entfernung jemanden anschauen und ihm den Körper zuwenden, wird der andere das als Gesprächsaufforderung verstehen. Es ist die ideale Distanz für den Small Talk.
  • Von 1,20 Meter bis etwa 3,60 Meter reicht die soziale Zone. Diese Distanz halten Menschen ein, die in sozialen Funktionen miteinander kommunizieren. Etwa Chef und Mitarbeiter, Käufer und Verkäuferin, Beamter und Antragsteller. Erst wenn Chef und Mitarbeiter Freunde werden, also sich auch für ihre Hobbys interessieren und gemeinsame Ausflüge unternehmen, werden Sie auch ihre Körperdistanz verringern. Manchmal legt ein Chef auf freundschaftliche Umgangsformen Wert, um seine menschliche Qualitäten zu beweisen. Wenn dem Mitarbeiter dies unangenehm ist, wird er unwillkürlich durch größere Körperdistanz seinen inneren Abstand signalisieren.
  • Über 3,60 Meter befinden wir uns in der öffentlichen Distanz. Es ist der Abstand von Theateraufführungen, Militärparaden oder Vorlesungen an der Universität. Dem entspricht eine Rollendistanz zwischen Vorführer und Publikum. Während in den näheren Distanzen ein dauernder Blickkontakt aufdringlich wirkt, ist hier ein ununterbrochenes Hinschauen oft die einzige Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben – zumindest für das stumme Publikum – und wird deshalb positiv als Zeichen von Interesse gewertet. Lächeln und längerer Blick sind oft das einzige Mittel, um, jemandem über größere Entfernung mitzuteilen, daß Sie mit ihm reden möchten. Ein Lächeln – als eine Art nonverbaler Gruß – ist bis zu einer Distanz von 45 Metern erkennbar.

2. Territorialverhalten: Während man seine Körperdistanzen immer mit sich herumträgt, bleibt das Territorium (außer bei Umzügen) unbeweglich. Schon die meisten Tiere haben mehrere Territorien, die nach ihren Funktionen festgelegt sind, also etwa ein Jagdterritorium (Revier), ein Schlafterritorium (Nest, Höhle), jahreszeitliche Territorien (wie Zugvögel oder Winterschlaf haltende Tiere) oder Reviere für Gruppenaktivitäten. Beim Menschen spielen wie bei höheren Affen (Schimpansen) Gruppenterritorien eine wichtige Rolle, was bei Naturvölkern mit stammeseigenen Wohn- und Jagdrevieren gut zu beobachten ist. Stammesterritorien beruhen auf der gegenseitigen persönlichen Bekanntschaft der Mitglieder – was wir in modernen Zeiten auch noch in kleineren Dörfern finden. Die Zivilisation hat – beginnend mit den ersten Städtegründungen in Indien, dem Vorderen Orient und Ägypten vor mehr als fünftausend Jahren – die persönliche Vertrautheit durch abstrakte Regeln ersetzt. Das Funktionieren der Gemeinschaft wird nicht mehr hauptsächlich durch persönliche Gespräche, sondern durch schriftliche, juristische Regeln gesichert. Das Gerichtsverfahren und die Bürokratie ersetzen das Klären der Probleme im persönlichen Gespräch.

Grenzanlagen richten sich immer gegen Fremde. In dörflichen Kulturen mit geringer Siedlungsdichte wurden bis in jüngste Zeit Türen nicht abgeschlossen und Gärten nicht eingezäunt. Die Angst vor den Unbekannten, über die man nichts weiß, und das Gefühl der Verletzlichkeit des eigenen Territoriums, führte mit dem wachsenden Privateigentum auch zu einer immer raffinierten passiven Selbstverteidigung. Dabei stellte sich schon relativ früh heraus, daß Mauern und Wehranlagen keinen wirklichen Schutz bieten. Die chinesische Mauer wurde noch während ihrer Bauzeit von Mongolenstämmen überwunden. Der römische Wall gegen die nördlichen Germanen, der Limes, reizte erst den Ehrgeiz der Stammesfürsten, diese Wunderwerk arroganter römischer Machtpräsenz zu zerschlagen – mit Erfolg.

Das Mittelalter war die Glanzzeit befestigter Grenzanlagen. Eine Zeitlang setzten Burgen und Stadtmauern Räubern und Feinden einen verhältnismäßig sicheren Schutz entgegen. Das Vertrauen in feste Wehranlagen brachte bekanntlich sogar die Einzelkämpfer dahin, sich in Rüstungen zu verkleiden trotz der offensichtlichen Nachteile (Gewicht, Wärmestau, Unbeweglichkeit). Doch schon im Hochmittelalter mußten die Kreuzritter die Erfahrung machen, daß bewegliches Fußvolk ohne Rüstungen berittene Ritterheere vernichtend schlagen konnte. Die Erfindung des Schwarzpulvers und der Bau immer schwererer Geschütze bereitete dem Einrüstungswahn ab dem 13./14. Jahrhundert ein Ende.

Dennoch faszinierte die Idee, sich einzuigeln, immer wieder Politiker und Militärs. Der technische Erfindungsgeist fand neue Lösungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mehrmals der Stacheldraht erfunden, unter anderem 1873 von dem Amerikaner Joseph F. Glidden. Zäune aus dem neuen Material waren leichter und schneller aufzurichten. Was sie an Wehrhaftigkeit verloren, glich man durch Kombination mit anderen Wehrmaßnahmen (Hunde, Wachpersonal, Schießanlagen) aus. Zum ersten Mal bewährte sich das neue Konzept Anfang des 20. Jahrhunderts im Burenkrieg, als sich holländischstämmige weiße Südafrikaner gegen die britische Kolonialmacht verteidigten. Die Besatzer erfanden das Konzentrationslager als billiges und effektives Gefangenenlager – eine Erfindung, die von den Deutschen nach 1933 dankbar gegen die eigene Opposition eingesetzt wurde.

Heute haben Zäune oft nur einen symbolischen Charakter, wenn Privatpersonen die Reviergrenzen ihrer Grundstücke damit markieren. Ein Spaziergang durch ein Villenviertel zeigt buntgeschmückte und -gestrichene Zäune, oft kombiniert mit Sträuchern – aber auch ängstliche Besitzer, die mit bissigen Hunde und mehreren Rollen Stacheldraht auf einer meterhohen Mauer ungeniert zeigen, wie sie über ihre Mitmenschen denken. Popstars verkriechen sich hinter ihren eigenen Festungen – und müssen erfahren, wie jüngst George Harrison – daß immer noch jedes Verbarrikadieren diejenigen, gegen die sich der Wall richtet, reizt, die Schwachstellen der Wehranlage herauszufinden.

In Ausstellungen zur Geschichte der Berliner Mauer und der Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik können wir die Früchte dieser Erfindungsgabe bewundern: Ballons, selbstgebaute Unterseebote, raffinierte Verstecks in Autos. Die „Mauer“ ist Geschichte; aber die Ereignisse in Jugoslawien oder Tschetschenien zeigen, daß der Bedarf an wehrhafter Abgrenzung nie erlischt.

Die Prognose der EGONet-Redaktion lautet daher: ob an der Schwelle zum vierten Jahrtausend noch Mauern und Zäune errichtet werden, ist fraglich, da die technischen Möglichkeiten immer schneller wachsen. Elektronische Wachen werden vielleicht mechanische Hindernisse gänzlich ersetzen. Eins scheint aber sicher: Es werden weiterhin Grenzen errichtet werden – und pfiffige Leute werden wie heute ihre Kreativität daran erproben, diese Grenzen zu überwinden.

Februar 2000 © by www.berlinx.de

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