Ist Nach­denken überflüssig?

Das Buch „Bauch­ent­schei­dungen“ ist kürz­lich als Wissen­schafts­buch des Jahres 2007 ausge­zeichnet wurden. Darin zeigt Psycho­logie­pro­fessor Gerd Gige­renzer, dass intui­tive Entschei­dungen häufig besser sind als ra­tional über­legte. Benö­tigen wir dann über­haupt noch un­seren Ver­stand?

Täglich treffen wir Dutzende Entscheidungen: Aufstehen oder liegen bleiben? Kaffee oder Tee zum Frühstück? Oder das Morgenmahl ganz ausfallen lassen? Mit dem Auto oder der U-Bahn zur Arbeit? Vieles davon entscheiden wir automatisch. Wir verhalten uns wie gewohnt. Andere Entschlüsse beschränken sich auf einfache Alternativen: Fahrkarte am Automaten kaufen oder am Schalter anstellen? Mit dem Auto die Hauptstraße lang oder den weniger befahrenen Umweg über die Nebenstraßen nehmen?

Wirklich gravierende Entscheidungen, deren Resultat über unser weiteres Leben entscheidet, treffen wir nur selten. Doch selbst dort verlassen wir uns oft auf Intuitionen und Gewohnheiten. Eine rationale Entscheidung, die allein sich auf die Kraft des Verstandes verlässt, benötigt nämlich eine Reihe von Voraussetzungen. Insbesondere:

  1. Eine klare, rationale Zieldefinition
  2. Genau unterscheidbare Alternativen
  3. Kenntnis der Wahrscheinlichkeiten für positive und negative Konsequenzen jeder Alternative

Diese Voraussetzungen kennen wir häufig nicht. Konsequenzen sind meist nicht genau im Voraus zu berechnen. Noch schlimmer: Unsere Ziele enthalten immer gefühlsmäßige Anteile. Psychologische Studien ergaben zum Beispiel folgende emotionale Verzerrungen:

  1. Was wir besitzen, schätzen wir höher als was wir nicht besitzen
  2. Wir neigen dazu, am Jetzigen festzuhalten und das Risiko von Veränderungen zu meiden
  3. Zeitlich Nahes ziehen wir Fernliegendem vor
  4. Wir neigen dazu, nur über vertraute Alternativen nachzudenken und fremdartige Möglichkeiten von Vornherein auszuschließen
  5. Bei unklaren und risikoreichen Alternativen verhalten wir uns vorsichtig und berechnend, bei einfachen Alternativen mit geringem Risiko geben wir schon mal unüberlegten Impulsen nach (typischer Fall: Spontankäufe)

Schon allein die Fülle der täglichen Entscheidungen erfordert, auf unsere Intuition zu vertrauen. Für langes Nachdenken fehlt die Zeit. Wir entscheiden spontan und hoffen: „Es wird schon gut gehen.“

Mit Recht, behauptet Gerd Gigerenzer. Da unsere Welt immer unübersichtlicher wird, gelingt es uns kaum noch, den Überblick zu behalten. Wir sind gar nicht in der Lage, alle nötigen Informationen für eine vernünftige Entscheidung zu gewinnen. Zu viele Optionen lähmen uns sogar. Haben Sie schon einmal ratlos vor einem Regal im Supermarkt mit Dutzenden gleichartiger Produkte gestanden und am Ende gar nichts gekauft? In den 90er Jahren verzeichnete beispielsweise ein amerikanischer Shampoohersteller einen Verkaufszuwachs von zehn Prozent, weil er sein Produktangebot verringerte.

Was tun? Unternehmen Sie erst gar nicht den frustrierenden Versuch, sich alle Informationen zu verschaffen. Nutzen Sie lieber „Pi mal Daumen“-Regeln der Intuition:

  1. Bekanntheit: Hören Sie auf andere. Was bei vielen Leuten als gut gilt, ist zumindest nicht völlig schlecht. Auf Geheim­tipps zu hören, ist dagegen risikoreich.
  2. Entscheide wie beim letzten Mal: Nutzen Sie frühere Erfahrungen. Wann haben Sie bei einem ähnlichen Fall eine Entscheidung getroffen, mit deren Folgen Sie zufrieden waren?
  3. Nimm den Erstbesten: Wenn Sie keinen Gesamtüberblick gewinnen können, fangen Sie beim ersten Unterscheidungsmerkmal an und hören auf weiter nachzudenken, sobald Sie genug wissen, um eine Entscheidung treffen zu können.
  4. Elimination: Liegen zu viele Alternativen vor, streichen Sie die schlechteren nacheinander aus bis nur eine übrig bleibt.
  5. Gut genug: Streben Sie nicht nach der perfekten Lösung, sondern nur nach einer, die ausreichend ist, um Ihre Ansprüche zu erfüllen. Das absolute Optimum ist schwer zu erreichen, das relative Optimum findet man leicht.

Die Kapazität unseres Gehirns stößt bei komplexen Problemen rasch an seine Grenzen. Laut Hirnforscher Gerhard Roth können wir nur fünf einfache Dinge oder zwei komplexe Vorgänge gleichzeitig im Kopf behalten. Beim Versuch, mehr Sachverhalte gleichzeitig zu beachten, scheitern wir.

Kommen wir also mit der Intuition weiter als mit dem Verstand? Nicht immer. Es kommt auf die Art des Problems an. Wenn wir bei vielen Optionen unter Zeitdruck entscheiden müssen, ist es sinnvoll, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Doch es gibt auch die großen Entscheidungen, für die wir Zeit haben. Hier ist eine umfassende Problemanalyse möglich und oft auch notwendig. Das können langfristige Anschaffungen oder Urlaubspläne sein – bis hin zu großen politischen Entscheidungen. Wenn etwa Politiker nur bis zur nächsten Wahl denken, erkennen wir die Nachteile abkürzender Gefühlsentscheidungen.

Unsere Lesetipps:
Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Bertelsmann 2007, € 19,95
Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta 2007,€ 24,50
Barry Schwartz: Anleitung zur Unzufriedenheit. Warum weniger glücklicher macht. Ullstein Taschenbuch 2006, € 8,95

Veröffentlicht im Dezember 2007 © by www.berlinx.de

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