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Wer sich als Frau in die Seele eines Mannes – oder als Mann in die Seele einer Frau – einfühlen will, sollte einen Blick in die Kindheit werfen. Denn trotz aller Angleichungen der letzten Jahre: die Weichen für das unterschiedliche Denken und Fühlen der Geschlechter werden immer noch in den ersten Lebensjahren gelegt.

Es ist seit Jahrzehnten bekannt: Mädchen werden schon in den ersten Lebenstagen von den Erwachsenen häufiger auf den Arm genommen, umschmust und geherzt. Ob es um die ersten Schritte, das erste Wort oder die Sauberkeitserziehung geht: an Jungen werden strengere Forderungen gestellt als an den weiblichen Nachwuchs. Aber daß Jungen im Schnitt später anfangen zu sprechen, ist kein Wunder: die Mütter sprechen mit den kleinen Mädchen häufiger als mit den Jungen. Jungen werden statt dessen häufiger geschlagen. Mädchen werden eher getröstet, wenn ihnen etwas mißlingt, Jungen eher bestraft. Dabei sind in den ersten Lebensjahren Jungen das schwächere Geschlecht: sie erkranken häufiger und ernster, ihre Säuglingssterblichkeitsrate liegt höher. Mehr Distanz und mehr Anforderungen: die Folgen lassen sich statistisch nachweisen: auf ein stotternde Mädchen kommen vier stotternde Jungen. Jungen sind doppelt so oft Bettnässer als Mädchen. In Fragen Nervosität und Hyperaktivität sind Jungen sogar siebenmal stärker betroffen – und zwar schon lange, bevor in der beginnenden Pubertät das aggressionssteigernde Männlichkeitshormon Testosteron die psychische Stabilität der Jungen für längere Zeit außer Kraft setzt.

Von früher Kindheit an haben Jungen daher schlechtere Kommunikationsfähigkeiten als Mädchen. Sie können sich nicht so gut ausdrücken. Auch wenn sie nicht mehr direkt zu hören bekommen, daß ein Junge nicht weinen darf: peinlich berührt sind die meisten Eltern doch und fürchten, er können ein Schwächling werden und sich nicht durchsetzen. Und durchsetzen muß er sich – von einem Mädchen wird das viel seltener erwartet. Wenn er mit Worten den Mädchen unterlegen ist, greift er zu den Fähigkeiten, in denen er ihnen von Natur aus überlegen ist: Prügeln. Sie sind kräftiger und beweglicher. Die Jungs merken genau, daß der Vater, der sie ausschimpft, weil sie sich geprügelt haben, insgeheim stolz ist, daß sein Nachfolger auf dem Weg ist, ein richtiger Mann zu werden. Auch feministisch aufgeklärte Mütter betrachten die Prügel, die ihr Sohn austeilt meist nachsichtiger, als wenn die Mädchen aufeinander einschlagen und sich an den Haaren ziehen.

Aber selbst dort, wo Eltern es schaffen, eine moderne Erziehung der Gleichheit der Geschlechter durchzuhalten – da sind immer noch die Gleichaltrigen. Und der Druck der Gruppe – egal, ob Schulklasse, Freundeskreise oder Nachbarschaftskinder – sorgt auf jeden Fall dafür, daß aus Jungen Kerle und aus Mädchen Frauen werden. Die amerikanische Psychologin Judith Harris erregte in den USA mit einem Buch Aufmerksamkeit, indem sie behauptete, daß die Gleichaltrigen einen größeren Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung ausüben als die Eltern.

Auch wenn es im Einzelfall unterschiedlich sein mag, woher der größte Einfluß kommt: jeder von uns wird sich noch gut an Druck von Freund(inn)en und Konkurrent(inn)en erinnern können, seine Stärke oder Beliebtheit zu beweisen. Wer in seiner Klasse in die Rolle des Außenseiters gedrängt wurde, wird sein Leben lang mit Hemmungen zu kämpfen haben. Wer nur als Klassenkaspar zeitweise Aufmerksamkeit erringen konnte, wird auch später noch um die Beachtung anderer buhlen wollen. Den Leithammeln der Schulzeit fällt es zwanzig Jahre danach noch schwer, Konkurrenten neben sich zu dulden.

Diese Art der Sozialisation wirkt auch bei der Festigung der Geschlechterrollen. Jungen müssen gar nicht gedrängt werden, ein „richtiger Mann“ sein zu wollen. Sie streben ganz von selbst nach derartigen Idealbildern, die ihnen Filme liefern und unter Gleichaltrigen als Bewertungsmaßstäbe wirken. Gefährliche Mutproben und Kämpfe sind an der Tagesordnung. Da können die Eltern noch so oft erzählen, daß gute Mathenoten wichtiger sind als eine gewonnen Prügelei: die einzige Schulleistung, die sofort Anerkennung verschafft, besteht darin, der beste im Sportunterricht zu sein.

Bei Mädchen verläuft die Identifikation mit der Weiblichkeit etwas unauffälliger, aber deswegen nicht weniger wirkungsvoll: Wissenschaftler zeigten, wie schon zwölfjährige Mädchen sich dem Klischee typisch weiblichen Verhaltens anpassen. Sie kichern, tuscheln und anstellen sich beim Sport mit Absicht ungeschickt an, sobald Jungen in die Nähe kommen. Die Tatsache, daß Kinder es vorziehen, nur mit Angehörigen des eigenen Geschlechtes zu spielen und Freundschaften zu schließen, verstärkt die Selbsterziehung zur eigenen Geschlechtsrolle weiter.

Solche Entwicklung hat ihren Preis. Jungen sind nicht nur die hauptsächlichen Verursacher von Gewalt, sondern auch deren bevorzugte Opfer. Sie erleiden

  • Körperverletzung doppelt so oft wie Mädchen
  • Selbstmord dreimal so oft wie Mädchen
  • Raub bis zu sieben Mal so oft wie Mädchen.

Befragungen der Erwachsenen zeigen, daß diese Identifikation mit der eigenen Geschlechtsrolle außerordentlich wirksam ist. Zwar akzeptieren Männer stärker als früher, daß Frauen gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten sollen, daß beide sich in Haushalts- und Erziehungspflichten teilen sollen. Aber im Konfliktfalle (etwa zwischen Beruf und Haushalt) entscheiden beide immer noch zugunsten des Mannes, was den Beruf betrifft und überlassen ihr den Haushalt. Eine neue Untersuchung von Wolfgang Lipp und Jan Künzler von der Universität Würzburg und Wolfgang Walter vom Staatsinstitut für Familienforschung in Bamberg liefert dafür konkrete Zahlen. Verheiratete Frauen leisteten 1965 31 Stunden Hausarbeit pro Woche. Westdeutsche Männer trugen nur drei Stunden dazu bei, ostdeutsche Männer sieben Stunden. 1991 betrug die Arbeitszeit der verheirateten Frauen im Haushalt 27 Stunden in Ostdeutschland und 32 Stunden im Westen. Die Beteiligung ihrer Männer betrug im Osten 16 Stunden, im Westen 13 Stunden. Das heißt: es gibt eine Tendenz zur Annäherung, aber besonders im Westen leisten die Frauen im Haushalt immer noch mehr als doppelt soviel.

Die traditionellen Ideale, was „echte Männer“ und „echte Frauen“ sind, bestimmen weiter unser Partnerwahlverhalten. Das zeigte kürzlich eine repräsentative Umfrage der Zeitschrift „Elle“ unter tausend Frauen. Danach werden sehr sensible Männer von mehr als jeder dritten Frau abgelehnt. Zwei Drittel finden offene, unkomplizierte Männer am erotischsten. Breite Schultern und eine kräftige Statur könnten nicht schaden.

Offenbar spielt der Geschlechtsunterschied eine wichtige Rolle beim Finden unserer Identität im Kindes- und Jugendalter. Wenn soziale Unterschiede zunehmend schwinden, werden äußere und Verhaltensunterschiede für die Identitätsfindung wichtiger. Diesen Prozeß mit aller Macht verhindern wollen, hätte wenig Sinn. Aber es sicher nützlich, sich der unterschiedlichen Entwicklung von Männern und Frauen bewußt zu werden, um einander besser zu verstehen.

Veröffentlicht im Februar 2001 © by www.berlinx.de

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