Wir leben im Zeitalter der Ungeduld

Immer schneller, am besten sofort! Im In­ter­net liegt die Er­fül­lung un­ser­er Wün­sche nur einen Klick weit entfernt.
Bloß kein Warten, nur keine Um­wege! Welche Fol­gen hat die­se Un­ge­duld für un­ser Lebens­gefühl?

Als Studenten gingen wir in eine Bibliothek, füllten einen Leihschein aus, warteten eine Stunde oder einen Tag und hatten dann endlich das gesuchte Buch in der Hand. Aber damit waren wir immer noch nicht an die gewünschte Information gelangt. Jetzt hieß es, 500 Seiten lesen. Also eine weitere Woche Geduld und Zeit aufbringen, bis wir endlich erfuhren, was wir wissen wollten.

Dieser Weg ist auch heute noch möglich. Aber im Ernst – wer treibt diesen Aufwand noch? Selbst angehende Wissenschaftler schauen erst einmal ins Internet, ob sie die gesuchte Information nicht fix und fertig vorfinden. Wohin diese Bequemlichkeit führen kann, zeigten die Plagiatsaffären von Guttenberg & Co.

Anfangs war das Internet nur eine Ergänzung im vielfältigen Informationsangebot. Inzwischen ist es jedoch zum beherrschenden Medium geworden. Es lässt alles Langsamere und Umständlichere alt aussehen. Schon vorher beschleunigte sich unser Leben. Autos und Flugzeuge lösten Fußgänger und Schiffe ab. Statt tagelang auf einen Brief zu warten, griff man zum Telefon. Freilich musste man vor zwanzig Jahren erst einmal eine funktionierende Telefonzelle finden. Inzwischen trägt jeder seinen Handy bei sich.

Ist das nicht ein Segen? Wir können in jeder Stunde mehr erleben als unsere Vorfahren, weil wir nicht mehr so lange warten müssen. Zugleich steigt unsere Lebenserwartung. Wir können faktisch mehrere Leben in einem führen. Internetexperte Peter Glaser bezeichnete diesen Trend  in einem Artikel der Technology Review als „Sofortness“.

Alles sofort haben wollen – das hat etwas kindlich Unreifes. Es ist die Krönung des Nicht-Erwachsen-Werden-Wollens. Es bringt uns dem Immer-Jung-Sein einen weiteren Schritt näher. Erst auf den zweiten Blick entdecken wir die Schattenseiten des Lebens im andauernden Jetzt:

Stau. Mit wachsendem Tempo haben Pannen immer gravierendere Auswirkungen. Von einem Augenblick auf den andern von 200 auf Null. Häufigkeit und Länge von Staus wachsen. Zugleich sinkt unsere Geduld, unplanmäßige Wartezeiten zu ertragen und sinnvoll zu nutzen.

Gleichförmigkeit. In einem langsamen Leben gibt es nur wenige Höhepunkte. Sie werden als emotionales Glück erlebt und bleiben als außergewöhnliches Ereignis lange in Erinnerung. Unter der Herrschaft des Jetzt-Prinzips eilen wir ständig von Höhepunkt zu Höhepunkt. Jede Lebensstunde soll außergewöhnlich sein und die vorige möglichst noch übertreffen. Damit verschwimmt aber der Lebenslauf zu einem gleichförmigen Brei, indem alles gleich wichtig – also auch gleich unwichtig – ist.

Amnesie. Wir sehen Hunderte toller Filme, besuchen jede Menge Partys, lernen Dutzende von Leuten kennen – aber können uns nach einem Monat an kaum noch einen erinnern. Freilich, wer im Dauer-Jetzt lebt, grübelt nicht über vergangene Fehler und macht sich keine Sorgen um die Zukunft. Er verliert aber auch den größten Teil seiner Erinnerung. Sein Gedächtnis schrumpft auf den gegenwärtigen Augenblick zusammen. Er bekommt den geistigen Horizont einer Pflanze.

Burnout. Arbeitszeit und Freizeit verdichten sich über das erträgliche Maß hinaus. Wir eilen, hasten, tun – aber finden keine Zeit mehr, das Erlebte zu verarbeiten. Wir leben nicht unser Leben, sondern das Leben lebt uns. Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein drücken auf die Stimmung.

Geduld als außergewöhnliche Spitzenbegabung. Abwarten können war einst eine allgemein übliche Tugend. Heute ist sie eine Schlüsselqualifikation geworden. Geduld muß in Managerseminaren unter Anleitung von Psychologen trainiert werden. Oder bei einem Seelen-Fasten in Klöstern und Wellness-Oasen. Der ungeduldige Laie ist dagegen zur Führung von Mitarbeitern nicht qualifiziert.

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veröffentlicht im Mai 2012 © by www.berlinx.de

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