Wer ist verantwortlich für meine Taten?
Wer entscheidet, was ich tue? Mein Bewusstsein? Eine unkörperliche Seele? Das Gehirn? Welche dieser Instanzen ist schuld, wenn ich über die Stränge schlage?
Der Richter fragt: „Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?“
Angeklagter: „Ich war’s nicht, sondern mein Gehirn.“
Richter: „Wie bitte?
Angeklagter: „Die Hirnforschung hat festgestellt, dass das Gehirn schon entschieden hat, bevor mir seine Entscheidung bewusst wird. Als ich von meinem Gehirn erfuhr, dass ich den Mann niederschießen werde, hatte mein Finger den Abzug schon durchgezogen.“
Richter: „In diesem Fall sind Sie frei. Ich verurteile an Ihrer Stelle Ihr Gehirn wegen bewaffneten Raubüberfalls mit Todesfolge zu zehn Jahren.“
Angeklagter: „Wie bitte?“
Richter: „Fragen Sie Ihr Gehirn, ob es bereit ist, ohne Sie hinter Gitter zu gehen. In diesem Fall besorgen wir Ihnen einen Termin beim Hirnchirurgen, der Sie von dem Schuldigen befreit.“
Nur eine lustige Anekdote? 2010 wollten Verteidiger vor einem US-Gericht mit Hilfe eines Hirnscanners nachweisen, dass der Angeklagte – ein mehrfacher Mörder – nicht voll schuldfähig sei. Die Geschworenen ließen sich nicht überzeugen. Das könnte sich bald ändern.
Entscheidet an meiner Stelle ein biologisches Organ über mein Tun? Sind wir Sklaven unserer Gehirne? Das behaupten Hirnforscher wie der Bremer Professor Gerhard Roth. Im Gehirn herrsche die strenge Abfolge von Ursache und Wirkung. Das Zusammenspiel von Nervenzellen und Hormonen lasse keinen Platz für subjektive Willkür. Der Glaube, ich könne so oder auch anders entscheiden, sei eine Illusion. Nicht Strafe, sondern Dressur des fehlprogrammierten Gehirns sei das beste Mittel gegen Straftäter.
Wer ist verantwortlich? Diese Frage haben Philosophen seit Jahrhunderten diskutiert. Descartes teilte im 17. Jahrhundert uns Menschen in zwei Teile:
- den Körper, eine biologische Maschine, die von Naturgesetzen regiert wird
- die Seele, die unkörperlich, geistig und im Denken frei ist
Jeder, der schon einmal zuviel Alkohol getrunken hat, weiß: Das kann nicht stimmen. Körperliches hat Auswirkungen auf die seelische Verfassung. Kater und Kopfschmerz schränken das freie Denken ein. Andererseits entscheidet der Geist, ob wir unseren Körper in Bewegung setzen oder lieber faul auf dem Sofa liegen. Körper und Geist sind miteinander verbunden. Die Abfolge von Ursache und Wirkung gilt für beide. Wie wir denken, hat körperliche Ursachen. Aber es gilt auch das Umgekehrte. Was wir denken, wird zur Ursache körperliche Prozesse.
Betrachten wir zum Vergleich ein Erdbeben. Erdbeben sind Naturkatastrophen. Ihre Ursachen liegen im Innern der Erde. Sind wir ihrer Wirkung deswegen hilflos ausgeliefert? Durchaus nicht. Wir können erdbebensicher bauen. Wir können auf Atomkraftwerke verzichten. Wir können Betroffenen helfen.
Kann ich also etwas dafür, wenn mein Gehirn verrückt spielt? Ich kann vorsorgen, was ich meinen Gehirn zumute. Wenn ich weiß, dass ich in bestimmten Situationen die Beherrschung verliere, kann ich solche Situationen meiden oder Gegenstrategien einüben. Und wenn mein Gehirn die Kunst der Selbstbeherrschung nicht beherrscht? Dann kann ich um professionelle Hilfe bitten. Und wenn ich selbst dazu nicht in der Lage bin, werden Angehörige sich darum kümmern.
Unser Gehirn mag tausendmal leistungsfähiger sein als ein Computer. Doch wie ein Rechner benötigt es Input. Mein Gehirn ist nur so gut wie die Informationen, die es aus der Umwelt einsaugt. Es ist aufs Lernen angewiesen. Was wir lernen – darauf haben wir Einfluss. Außer der angeborenen Hirnstruktur gibt es also weitere Ursachen für mein Tun:
- die Gene von Vater und Mutter
- frühkindliche Erziehung
- Schule und Lehrer
- weitere Vorbilder
- Gleichaltrige (die „peer group“)
- die Gesellschaft und die Kultur
Ebenso wichtig ist der Output. Das Gehirn ist kein eigenständiges Lebewesen, sondern ein Organ. Es braucht einen Körper, um arbeiten zu können. Das ganze Ich trifft die Entscheidungen – das Gehirn ist nur das Organ, das sie vorbereitet.
Diese Arbeitsteilung kennen wir auch aus anderen Bereichen. Kein Koch würde versuchen, dem Gast nur ein Rezept statt des zubereiteten Essens aufzutischen. Kein Dirigent würde sich damit begnügen, nur die Noten an die Wand zu projizieren. Selbst Möbelkaufhäuser liefern neben der Bauanleitung noch Bretter und Schrauben mit, ohne die kein Regal entstehen kann.
Buchtipps:
Alva Noë: Du bist nicht dein Gehirn. Piper, € 19,95
Stefan Schleim: Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert. Heise, € 18,90
Holm Tetens: Geist, Gehirn, Maschine. Philosophische Versuche über ihren Zusammenhang. Reclam, € 4,60
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veröffentlicht im Juni 2011 © by www.berlinx.de
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