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Übergewicht ist die stärkste Seuche des 21. Jahrhunderts. Ihre Opferzahlen übersteigen Pest und spanische Grippe um ein Vielfaches. Dagegen hilft kein Antibiotikum. Neue Forschungen erklären uns, warum es immer schwerer fällt, schlank zu bleiben.

Keine Frauenzeitschrift ohne neue Diät. Keine Diät, an der nicht 95 Prozent der Teilnehmer scheitern. Was haben die Diätgurus nicht alles für verantwortlich erklärt! Die Gene, den Jojoeffekt, den Bewegungsmangel, die industrielle Nahrung. Einige erklären neuerdings das Übergewicht sogar für eine Täuschung: Falsche Schönheitsideale haben unseren Blick verändert. Eine Figur, die einst als normal galt, halten wir heute für zu dick.

Fragen Sie eine Übergewichtige, warum sie zuviel isst, wird ihre Antwort lauten: „Wegen meinem Hunger.“ Brian Wansink, Forscher an der Cornell Universität, und viele seiner Kollegen haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Behauptung zu widerlegen. In der Tat: Wäre der Hunger schuld, hätten die Leute vor 50 Jahren genauso übergewichtig sein müssen wie heute. Auch damals hatten alle genug, um sich satt zu essen. Viel essen galt nach dem Krieg sogar als schick. Dennoch gab es weniger Dicke als heute. Wansinks Antwort lautet kurzgefasst: Wir überessen uns nicht, weil wir hungrig sind, sondern weil wir uns verführen lassen – von Farben, Gerüchen, Portionsgrößen, dem Beispiel anderer Vielesser, der leichten Verfügbarkeit von Essen, den allgegenwärtigen Snackangeboten und zahlreichen weiteren Einflüssen unserer Umgebung.

In einer Reihe verblüffender Experimente haben die Forscher ihre Behauptung belegt. Sie luden Sattesser wie Sie und ich ins Labor ein, die bislang von sich glaubten: „Wenn ich esse, dann weil ich Hunger habe.“ Schauen wir uns einige Experimente an:

77 Studenten wurden 2001 eingeladen, gemeinsam eine Sportübertragung vor einem Großbildschirm anzusehen. Dabei konnten sie umsonst soviel Geflügel (chicken wings) essen, wie sie wollten. Die Kellnerinnen räumten bei der Hälfte der Studenten regelmäßig die abgenagten Knochen ab und servierten den Nachschub auf leergeräumten Tellern. Bei der anderen Hälfte blieben die Knochen liegen. Das vorhersehbare Ergebnis: Wessen Teller ständig leergeräumt wurde, aß kontinuierlich weiter. Am Ende hatten die Studenten der ersten Gruppe im Schnitt sieben Hühnerflügel verspeist. Dort wo die Knochen liegen blieben, waren es nur fünf, also 28 Prozent weniger. Ein Unterschied von einigen hundert Kalorien.

Eine Studie in Gefängnissen des Mittleren Westens der USA ergab, dass die Insassen innerhalb von sechs Monaten 25 Pfund zunahmen. Obwohl die Verpflegung alles andere als verführerisch schmeckte. Woran lag es? Regelmäßige Essenszeiten? Langeweile? Zu wenig Bewegung? Nein. Die Ursache war die Gefängniskleidung. Die besteht aus lose sitzenden Jogginganzügen in orange. Diese Anzüge verbargen jede Gewichtszunahme unter wallendem Stoff. In dieser Kleidung versagte die Selbstkontrolle der Figur durch den Spiegel. Auch Normalbürger nutzen häufiger äußere Merkmale statt Waagen, um zu prüfen, ob ihre Figur noch stimmt. Bei einer Befragung von 322 Personen erhielten die Forscher vorzugsweise Antworten wie: „Wenn meine Jeans noch passt.“ – „Wenn meine Kollegen fragen, ob ich abgenommen habe.“ – „Wenn ich meine Wangenknochen noch sehen kann.“

Diätwillige zählen häufig Kalorien. Doch fragt man nach, schätzen sie ihre gegessene Kalorienzahl zu niedrig ein. Man sollte denken, wer ein Figurproblem hat, ist sensibilisiert und bewertet seine Kalorienaufnahme realistischer. Doch das Gegenteil ist der Fall. Im Schnitt verschätzen sich Befragte um 20 Prozent. Wer 1200 Kalorien gegessen hat, glaubt, er habe nur 1000 zu sich genommen. Übergewichtige verschätzen sich jedoch stärker – um 40 Prozent. Selbstbetrug? Keineswegs. Auch hier ist wieder eine optische Täuschung schuld. Je größer ein Ding ist, desto größer der Schätzfehler. Wenn Sie die Größe eines Fernsehturms schätzen sollen, hauen Sie stärker daneben als bei einem Kirchturm. Dicke essen durchschnittlich größere Portionen – sonst wären sie nicht dick. Und bei größeren Portionen ist der Schätzfehler, was die enthaltene Kalorienmenge betrifft, größer.

Wer allein isst, isst weniger. Der Psychologe John DeCastro konnte zeigen: Je mehr Personen mit am Tisch sitzen, desto mehr essen wir. Zu zweit essen Sie im Schnitt 35 Prozent mehr als allein. Zu dritt sind es schon über 40 Prozent, zu viert fast 60 Prozent. Und wenn acht Personen am Tisch sitzen, essen Sie fast das Doppelte Ihrer Soloportion, nämlich durchschnittlich 96 Prozent mehr. Der wichtigste Faktor, der den Unterschied verursacht, ist die Zeit. Man sitzt gemütlich zusammen, isst und redet. Wer allein isst, braucht für eine normale Portion 11 Minuten. Zu zweit dauert diese Mahlzeit schon mehr als doppelt so lange. Eine größere Gruppe bleibt mehr als eine Stunde beisammen.

Wir glauben bis heute, dass wir aufhören zu essen, wenn der Magen voll ist. Doch das stimmt nur, wenn es sich um ein reichhaltiges, mehrstündiges Festmahl handelt. Im Alltag stopft sich niemand zu, bis er randvoll ist. Ein solches Überessen wäre nur sinnvoll, wenn wir nur alle paar Tage Nahrung finden würden. Wie zum Beispiel in der Urzeithorde, als der Jagderfolg selten war.

Die Forscher können bis heute nicht genau erklären, wovon unser Sättigungsgefühl abhängt. Gewohnheit und Hormone wie Leptin scheinen eine „gewichtige“ Rolle zu spielen. Doch das Entscheidende scheint unsere Erwartung zu sein: Wir wissden bereits, bevor wir anfangen zu essen, nach welcher Menge wir uns satt fühlen wollen. Und da verlassen wir uns mehr auf das Auge als auf den Magen. Wenn Sie sagen „Ich möchte zwei Kugeln Eis“ nutzen Sie ein optisches Signal. Ebenso, wenn Sie Ihre Portion auf Ihren Teller schaufeln. Entspricht diese Vor-Erwartung Ihrem realen Energiebedarf, bleiben Sie schlank. Wenn nicht …

Leider haben wir heutzutage mehr als ausreichend Zeit, Geld und Gelegenheit zum Essen. Dadurch ist bei immer mehr Leuten dieser innere Regler zu hoch eingestellt. Wir essen mehr, als uns gut tut. Wer abnehmen will, sollte seine Essrituale überprüfen und geheime Verführer von sich fernhalten.

Veröffentlicht im Juni 2006 © by www.berlinx.de

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