Warum gute Manieren in Krisenzeiten florieren
Die Verachtung der 68er Generation für höfliche Umgangsformen ist in eine neue Verehrung für geschliffenes Benehmen umgeschlagen. Benimmschulen und –literatur gedeiht wie nie zuvor. Können Sie die „gute Kinderstube“ ersetzen? Und was bedeuten vollendete Manieren heute?
Eine Umfrage unter Teilnehmern an Benimmkursen brachte ein erstaunliches Phänomen an den Tag. Der Nutzen, den die Schüler aus dem neuen Wissen zogen, war kein verbessertes Benehmen. Sondern die Lust, andere Leute kritisch zu beobachten und bei Benehmensfehlern zu ertappen.
Es genügt nicht zu lernen, wie man einen Handkuss ausführt oder wer wem bei welcher Gelegenheit den Vortritt zu lassen hat. Auf den Geist der Manieren kommt es an. Auf eine innere Haltung, die in passenden und flexiblen äußeren Formen ihren Ausdruck findet. Doch worin besteht dieser „Geist“? Ein neues Buch mit dem schlichten Titel „Manieren“, das in kurzer Zeit den Weg in die Bestsellerlisten fand, gibt darauf eine Antwort.
Der Autor Asja-Wossen Asserate ist in dreifacher Weise qualifiziert, einen ungewöhnlichen Blick auf unsere Umgangsformen zu werfen. Er ist ein echter Prinz, entstammt also dem Adel, der seit Jahrhunderten Manieren erfindet und pflegt. Er stammt aus Äthiopien und kann daher vieles mit kulturellem Abstand betrachten, was uns Europäern längst selbstverständlich erscheint. Und er besitzt als Unternehmensberater langjährige Erfahrung auf dem internationalen gesellschaftlichen Parkett.
Manieren haben immer dann Hochkonjunktur, wenn die wirtschaftliche Lage alles andere als rosig ist. Beim Vergleich der Kulturen kam Wosserate zu der „Einsicht, dass die Manieren bei einer gewissen Rückständigkeit der Gesellschaft … besser gedeihen“ (S. 293). In ökonomisch schwierigen Zeiten klafft die Schere zwischen arm und reich weit auseinander. Manieren dienen seit alters her dazu, die soziale Kluft im Umgang miteinander zu überbrücken. Kein Wunder daher, dass nach den Jahren des Wirtschaftswunders die Idee der Gleichheit für alle die alten Formen der Lächerlichkeit preis gab. Einerseits können wir froh sein, dass wir die alten Formen nicht mehr nötig haben, andererseits betrachten wir den Verlust von Stil und Eleganz mit leiser Wehmut.
Heute ist die Hoffnung auf ständig wachsenden Wohlstand zerstoben. Die Zeiten der Sorglosigkeit sind zu Ende. Heute sind andere Tugenden gefragt:
- Unter unsicheren Bedingungen Haltung bewahren.
- Selbstkontrolle ausüben, stets selbstbeherrscht auftreten.
- Einen starken, stabilen Charakter zeigen.
- Eine lässige, gemächliche Gangart angesichts der atemlosen Hektik der Antriebsgesellschaft.
- Familiensinn und Pflege stabiler Freundschaften mit gegenseitiger Verlässlichkeit.
- Großzügigkeit und praktizierte Wohltätigkeit.
- Verachtung für unverhüllten Ehrgeiz und Ellenbogengebrauch.
- Verluste mit Fassung – ohne großes Jammern und Klagen – tragen zu können.
Genau diese Tugenden machen den Geist guter Manieren aus. Was nützen geschliffene Formen, wenn sich der Verdacht erhebt, dass sie nur einem rücksichtslosen Egoismus dienen sollen, seine Opfer geschickter übers Ohr zu hauen? Wosserates Vergleich der Sitten in verschiedenen Kulturen zeigt, dass die Formensprache von Land zu Land stark variiert. Einen weltweit verbindlichen Knigge gibt es nicht. Wer über einen vornehmen Charakter verfügt, dem wird es nicht schwer fallen, dennoch ein vornehmes Verhalten an den Tag zu legen. Selbst wenn ihm dabei der eine oder andere Faux pas unterläuft. Mit Leichtigkeit und Humor wird er alle Klippen elegant umschiffen.
Doch wem gelingt es schon, ständig Gelassenheit und Souveränität auszustrahlen? Der Chef macht Stress, ärgerliche Kunden strapazieren die Nerven und ausgerechnet da ruft der Partner an, er habe Theaterkarten für heute Abend besorgt, Beginn der Vorstellung in anderthalb Stunden … Dann kann eingeübte Höflichkeit ein stabiles, inneres Gerüst liefern, um trotz Anspannung nicht aus der Rolle zu fallen.
Unser Lesetipp:
Asfa-Wossen Asserate: Manieren. Eichborn Verlag 2003. € 22,90 |
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