Frauen mit männlichen und Männer mit weiblichen Zügen faszinieren uns. Sie verheißen uns eine Zukunft, in der die Gegensätze zwischen den Geschlechtern verschwinden, in der wir unsere andere Seite entdecken und ausleben.
David Bowie, Boy George, Computerspielheldin Lara Croft und viele Models mit knabenhafter Ausstrahlung wurden als androgyn bezeichnet. Das Wort setzt sich zusammen aus den griechischen Bezeichnungen für Mann (andros) und Frau (gyne). Es benennt ein Wesen, das die positiven Eigenschaften beider Geschlechter in sich vereint und ihre negativen Seiten überwindet.
Frauen sollen stark, selbstbewusst, unabhängig und intelligent, Männer sensibel, einfühlsam und weniger aggressiv werden. Das ideale androgyne Wesen ist also hart und gefühlvoll zugleich. Wenn allerdings in den Medien das Wort „androgyn“ fällt, sind Äußerlichkeiten gemeint. Weiblichen Gesichtszüge und Make-up beim Mann, knabenhafte Figur, kurze Haare und durchsetzungsfähiges Auftreten bei der Frau.
Das Ideal der Androgynie stammt von dem altgriechischen Philosophen Platon. In seinem „Gastmahl“ erzählte er, dass Mann und Frau ursprünglich in einem kugelförmigen Wesen mit vier Armen und Beinen vereint waren. Weil dieses Wesen aber danach strebte, den Göttern ihren Rang streitig zu machen, spaltete Göttervater Zeus diese androgynen Doppelmenschen in einen weiblichen und männlichen Teil auf. Seitdem sind die Hälften damit beschäftigt, Liebe zu suchen, um sich zu vereinen und so zu ihrer früheren androgynen Ganzheit zurückzufinden. Mit sich selbst beschäftigt, stellen sie für die Götter keine Gefahr mehr da.
Die Frauenbewegung besann sich auf das alte Ideal. Für den Feminismus sollte die befreite Frau androgyne Eigenschaften besitzen. Sie wollte den Mann vom patriarchalischen Thron stoßen und sanfter machen – auch ihm war eine androgyne Zukunft bestimmt. Soweit das Ideal. Doch hat es in der Alltagspraxis eine Chance? In der Folgezeit haben Psychologen untersucht, wie weit androgyne Eigenschaften in der Gesellschaft tatsächlich einen Vorteil bieten.
Das Ergebnis: Frauen profitieren von der Androgynie. Ihnen nutzt ein Zugewinn an Eigenschaften, die traditionell als männlich galten – also aktiv, unabhängig, standfest und durchsetzungsfähig sein. Je männlicher eine Person in ihrem Charakter ist, desto besser sind ihre Leistungen und ihr Selbstwertgefühl. Dagegen sinken Leistungen und Selbstwertgefühl, wenn eine Person zu Gefühlsausbrüchen, Unterwürfigkeit, Jammern und Nervosität neigt – also Eigenschaften, die als traditionell eingestuft wurden.
Frauen nutzt also die Androgynie. Männern aber nicht. Welchen Vorteil sollten Männer haben, weniger Leistung und ein negatives Selbstwertgefühl zu entwickeln? Selbst unter schwulen Männern hat sich Androgynie nicht durchgesetzt.
Doch auch für Frauen ist Androgynie nicht durchweg positiv. Sie schadet nämlich dem Sex-Appeal. Sex-Appeal entsteht aus den typischen äußeren Geschlechtsattributen. Nur wer auf den ersten Blick als eindeutig männlich bzw. weiblich zu erkennen ist, sendet klare Signale, auf die das andere Geschlecht reagiert. Besonders Männer bevorzugen Frauen mit klar weiblicher Ausstrahlung. Anders die Frauen. Auf der Suche nach einem Abenteuer wissen sie zwar maskuline Kerle zu schätzen, wenn es jedoch um einen Dauerpartner geht, kommen bei ihnen Männer mit femininen – also androgynen – Zügen besser an. Auch hier ist das androgyne Ideal etwas, das vor allem Frauen interessiert.
Die androgynen Wesen der Medien bilden da keine Ausnahme. Die androgynen Sänger beeindrucken vor allem weibliche Fans. Soll hingegen eine Amazone wie Lara Croft Männer begeistern, darf sie nicht über nur Waffen und einen entschlossenen harten Blick verfügen, sondern muss auch viel Haut an den üblichen Stellen zeigen. Lara Croft ist schlank, aber ihre weibliche Kurven sind nicht zu übersehen.
Am stärksten hat sich das androgyne Ideal in der Erziehung verwirklicht. Eltern schwebt für ihre Kinder häufig eine Persönlichkeit vor, die die besten Eigenschaften beider Geschlechter in sich vereint. Doch wieder übernehmen Töchter dieses Ideal eher als die Söhne. Kein Wunder, männliches Auftreten wird in unserer Gesellschaft mit Erfolgen belohnt, auch bei Frauen. Dagegen kommt ein Mann gut durchs Leben ohne sanft, hilfreich, aufopfernd und gefühlsbetont zu handeln.
Damit bleibt Androgynie vor allem eine Variante, einen originellen persönlichen Stil zu finden. Für Frauen ist sie eine Möglichkeit, zu einem stärkeren Selbstbewusstsein zu gelangen. Weil Frauen verstärkt männliche Züge annehmen, verringern sich die Gegensätze zwischen den Geschlechtern. Männer haben sich vergleichsweise wenig verändert. Sie helfen etwas mehr im Haushalt und haben gelernt, dass soziale Kompetenz wichtig ist. Aber männliche Ideale von Härte und Dominanz sind weiterhin die Domäne „echter“ Kerle. Androgynie bleibt in erster Linie eine Sache der Frauen, die ihren Fuß in bislang männlich beherrschte Territorien setzen.
Oktober 2004 © by www.berlinx.de
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