Der französische Apotheker Emile Coué (1857-1926) erprobte schon Jahrzehnte vor der Erfindung des Autogenen Trainings den Nutzen der Selbstsuggestion. Er empfahl täglich längere Zeit immer wieder denselben aufbauenden Satz vor sich hinzumurmeln: „Es geht mir jeden Tag in jeder Hinsicht besser und besser.“ Mit Erfolg.
Wer die sechs Übungen der Grundstufe absolviert hat, befindet sich in einem entspannten Zustand, der ihn für weitere Suggestionen empfänglicher macht, als es im normalen bewußten Zustand der Fall ist. Jetzt ist es möglich, durch eine weitere, siebte Formel gezielt ein persönliches Problem aufzugreifen. Das kann so ein allgemeiner Satz wie der von Coué sein oder eine Suggestion gegen ein spezielles Leiden. Die Formel wird an die Stirnübung angeschlossen. Während aber die sechs Übungen der Grundstufe mit jeder weiteren Übungseinheit verkürzt werden können (da sie nur der „Umschaltung“ auf Entspannung dienen), benötigt die spezielle Suggestion mehrere Minuten, damit sie im Unterbewußtsein Veränderungen einleiten kann. Ein Standardablauf, der nach Bedarf variiert werden kann und einmal am Tag geübt wird, sieht so aus:
vier Minuten für die Grundstufe von der Schwereübung bis zur Stirnkühle
vier Minuten für die persönliche Formel
vier Minuten passiv den Entspannungszustand genießen
vier Minuten noch einmal die persönliche Formel wiederholen
Rücknahme: „Arme fest! Tief Luft holen! Augen auf!“
Studien zeigen, daß diese „formelhafte Vorsatzbildung“ (so der Fachbegriff) am besten bei psychosomatischen Krankheiten funktioniert. Wer also unter Dauerstress steht und mit der Zeit zu hohen Blutdruck, Magen- und Darmprobleme oder Spannungskopfschmerzen entwickelt, kann sich mit dieser Methode selbst helfen. Bei Raucherentwöhnung und anderen Bemühungen, sich selbst zu ändern, kann die Suggestion die Umstellung auf neue Gewohnheiten unterstützen.
Die Formel soll folgende Anforderungen erfüllen:
positive oder neutrale Formulierung (also nicht „ich rauche nie mehr“, sondern „Zigaretten sind mir gleichgültig“)
kurze Formulierung, möglichst nur ein bis zwei kurze Hauptsätze.
Eingängige, möglichst rhythmische Formulierung (Beispiel:„Ich schláfe rúhig, tíef und fést.“)
Einige Beispiele für bewährte Vorsatzformeln:
„Jede Störung (oder: jeder Streß, jedes Geräusch) vertieft die Ruhe.“ (für innere Ruhe)
„Der Nacken bleibt angenehm warm, der Kopf bleibt klar und schmerzfrei.“ (gegen Spannungskopfschmerz)
„Der Magen arbeitet ruhig und behält die Speisen gern.“ (gegen Bulimie)
„Ich bin zufrieden, ruhig und satt.“ (gegen Übergewicht, Eßsucht)
„Verdauung pünktlich früh um sechs.“ (gegen Verstopfung)
„Ich erwache pünktlich früh um sechs.“ (gegen morgendliches Verschlafen)
„Ich denke und handle souverän und klar.“ (allgemeine Formel gegen Schüchternheit und Ängste)
„Ich spreche ruhig, fließend und frei.“ (gegen Redeangst vor Publikum)
Gegen Sucht können ausnahmsweise auch negative Formulierungen helfen, wenn sie einem das Suchtmittel verleiden, zum Beispiel: „Der Geschmack von Zigaretten (Alkohol usw.) stößt mich ab.“
Wer einige Monate die formelhafte Vorsatzbildung geübt und die Grundstufe so weit automatisiert hat, daß er in wenigen Sekunden auf Entspannung umschalten kann, besitzt die nötige Übung, um nun die Oberstufe zu bewältigen. Es handelt sich um eine westliche Variante sich in Trance zu versetzen mit den seelischen Veränderungen, die wir aus der fernöstlichen Meditation kennen. Der Übungsaufwand ist höher als in der Grundstufe. Experten empfehlen Übungseinheiten von wenigstens zwanzig Minuten. Auch in der Oberstufe gibt es sechs Einheiten, die aufeinander aufbauen:
Farbsehen. Drei Prozent der Trainierenden berichten am Ende der Unterstufe über spontanes Farbensehen vor den geschlossenen Augen. Die übrigen erzeugen eine innere Farbe durch Suggestion. Im entspannten Zustand der Grundstufe läßt man die Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern nach oben gleiten und „sieht“ den Satz. „Vor meinem inneren Auge entwickelt sich eine Farbe“ und nach sechs Wiederholungen: „Es ist meine Farbe.“ Welche Farbe erscheint, ist individuell verschieden. Sobald nach spätestens einigen Wochen eine Farbe erscheint, unterstützen Sie die Suggestion des Farbempfindens mit weiteren Sätzen. „Die Farbe wird immer deutlicher“ und „Die Farbe steht klar vor mir“. Nach rund vier Minuten Farbempfinden nehmen Sie die Suggestion zurück mit „Die Farbe zieht sich zurück“ und „Die Farbe ist verschwunden“. In weiteren Übungseinheiten können Sie bei Erfolg dazu übergehen, bewußt andere Farben in intensiver Tönung vor Ihr inneres Auge zu holen, zum Beispiel: „Mein Violett wandelt sich allmählich zu Grün.“ Experimentieren Sie mit dem ganzen Farbspektrum, ehe Sie nach einigen Monaten Üben zur zweiten Phase der Oberstufe schreiten.
Gegenstände sehen. Es gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten fortgeschrittenen Meditierens, Gegenstände wie eine brennende Kerze in täuschender Echtheit vor dem inneren Auge erscheinen zu lassen. In den ersten Tagen begnügen Sie sich damit, den gewählten Gegenstand innerlich zu betrachten, ohne etwas zu erzwingen. Dann erhöhen Sie nach und nach die suggestige Deutlichkeit mit Sätzen wie: „Vor meinem inneren Auge entwickelt sich eine brennende Kerze. Das Bild wird deutlicher. Die Kerze leuchtet klar vor mir.“ Nach vier Minuten ähnlich wie in der ersten Übung: „Das Bild zieht sich zurück“ und „Das Bild ist verschwunden“. Sobald das gelingt, suggerieren Sie sich weitere Gegenstände und üben den Wechsel zwischen den BILDERn, zum Beispiel: „Meine Kerze verwandelt sich in einen Apfel“. Wenn das gut klappt, suggerieren Sie sich Personen, bis Sie die Gesichtszüge ganz deutlich „sehen“ können.
Abstrakte Werte sehen. Nun geht es darum, für Frieden, Stille, Ruhe, Harmonie, Geborgenheit, Glück, Vertrauen, Gelassenheit, Weisheit oder andere Werte, die Ihnen wichtig sind, konkrete BILDER zu finden. Beginnen Sie mit: „Vor meinem inneren Auge entwickelt sich ein Bild: ich sehe und erlebe Frieden.“ Unter den BILDERn der Trainierenden sind weite Landschaften mit Seen, Wiesen und Wäldern, oft im Abenddämmerlicht, sehr häufig. Sollten dabei negative BILDER auftauchen, ist das ein Hinweis auf unbewältigte Probleme. Vor dem Auge einer Frau, die „Harmonie“ sehen wollte, tauchte statt einer schönen Landschaft eine Küchenecke mit den leeren Schnapsflaschen Ihres Gatten auf.
Charakterbildung. „Vor meinem inneren Auge entwickelt sich ein Spiegel. Ich sehe mich darin, wie ich wirklich bin“ Je älter Sie sind, desto gefestigter ist Ihr Charakter. Sie werden mit dieser Übung keine großen und vor allem keine schnellen Veränderungen erzielen. Am sinnvollsten ist diese Übung, wenn Sie sich auf Selbsterkenntnis konzentrieren und mit Sätzen nach den Regeln der formelhaften Vorsatzbildung einzelne, konkrete Veränderungen einleiten, etwa: „Ich bleibe geduldig“, „Angriffen begegne ich gelassen“ oder „Ich ruhe in mir selbst“. Wenn Sie mit den BILDERn vor dem inneren Auge gut zurechtkommen, können Sie auch Ihr Spiegelbild in der Suggestion Ihrem Wunschbild annähern: indem Sie ihm zum Beispiel ein entschlossene Körpersprache verleihen oder sich selbst erfolgreich in heiklen Situationen vorstellen.
Weg auf dem Meeresgrund. „Vor meinem inneren Auge entwickelt sich ein Bild. Ich sehe mich am Ufer des Meeres. Ich gehe ganz ruhig, Schritt für Schritt, immer weiter und immer tiefer hinunter auf den Grund des Meeres.“ Achten Sie darauf, daß sich ein deutliches Bild entwickelt. Sollten Sie ängstliche Schauer beim Gang unter Wasser spüren, versehen Sie sich vor dem Abtauchen mit einem Zauberstab, mit dem Sie eine schützende Zone um sich herum schaffen. Spazieren Sie einige Minuten durch die Tiefe und beenden Sie die Übung mit „Ich kehre allmählich zurück zum Ufer des Meeres.“
Weg auf die Bergeshöhe. „Vor meinem inneren Auge entwickelt sich ein Bild. Ich sehe vor mir einen hohen Berg. Ich steige ruhig Schritt für Schritt höher und höher hinauf.“ Mit dem Hinaufsteigen entwickeln sich bei vielen Übenden Gefühle der Euphorie. Sobald Sie sich frei und sicher fühlen, können Sie wie ein Vogel Ihre Schwingen ausbreiten und einen Phantasierundflug unternehmen. Sie beenden die Übung mit „Ich löse mich allmählich und kehre langsam und Schritt für Schritt ins Tal zurück.“
In einem siebten Übungsschritt können Sie frei nach eigenen Vorlieben BILDER erfinden. Kennzeichnend für die gesamte Oberstufe ist größere Freiheit in Gestaltung und Ablauf der Übungen. Auch unsere Formulierungen sind nur Standardvorschläge, die sich bewährt haben. Sollten Sie unangenehme Empfindungen überwältigen, hören Sie bitte sofort auf. Ändern Sie dann Ihren Übungsplan, fragen Sie gegebenenfalls einen Facharzt oder Therapeuten um Rat. Und vergessen Sie nie, aus der Entspannung in den Alltag mit Rücknahmeformeln zurückzukehren, etwa „Die BILDER ziehen sich zurück. Die BILDER sind verschwunden. Arme fest, tief Luft holen, Augen auf!“
Literatur:
Johannes Heinrich Schultz: Das autogene Training. Thieme Verlag Stuttgart 1991, DM 109,- (€ 55,73)
Johannes Heinrich Schultz: Das Original Übungsheft für das Autogene Training. TRIAS Verlag Stuttgart DM 8,90 (€ 4,55)
Klaus Thomas: Praxis des Autogenen Trainings. Selbsthypnose nach I. H. Schultz. Grundstufe. Formelhafte Vorsätze. Oberstufe. TRIAS Verlag Stuttgart DM 29,89 (€ 15,28)
Eberlein, Gisela: Gesund durch autogenes Training. Ullstein Taschenbuch Verlag Berlin 2001.
Eberlein, Gisela: Autogenes Training mit Kindern. Für Ausgeglichenheit, Mut und Konzentration. Econ Taschenbuch Verlag, München 1999.
veröffentlicht im Juni 2005 © by www.berlinx.de
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