Warum tun wir uns das an?
Man kennt es aus den vergangenen Jahren. Eine Einkaufs- und Organisationslawine rollt auf uns zu. Trotz bester Vorsätze, es beim nächsten Fest anders zu machen. Warum tappen wir erneut in die Falle?
Es gab genug Vorwarnungen. Seit September bietet der Handel Stollen, Spekulatius und Dominosteine an. Wir sind alarmiert. Seit dem ersten Advent plagt die Mehrzahl von uns das schlechte Gewissen. Du musst Geschenke besorgen. Du musst die Festtage planen. Und entscheiden, ob wir zu den Eltern fahren oder sie einladen – für viele sind beide Alternativen gleichermaßen bedrohlich. Wer mit dem Gedanken spielt, auf die Kanaren oder nach Kuba zu flüchten, sei gewarnt. Auch dort feiert man Weihnachten.
Warum tun wir es alle Jahre wieder? Nicht nur wegen der Geschenke. Der Weihnachtstrubel selbst erfüllt unbewusste Bedürfnisse. Sie sind der Grund, warum sich die Tradition so hartnäckig hält – auch unter Menschen, für die der christliche Glaube keine Rolle spielt.
Kitsch und Schmalz. Eine wunderbare Gelegenheit, hemmungslos große Gefühle zu zeigen. Jetzt müssen Sie sich nicht mehr entschuldigen, wenn Sie in Tränen und Emotionen schwelgen. Es ist ja Advent. Weihnachten ist Ihre Zeit. Oder hassen Sie goldige Engel und schnulzige Kinderchöre? Dann bietet Ihnen der Dezember die einmalige Chance, sich von der Mehrheit abzugrenzen. Weihnachten eignet sich zur individuellen Standortbestimmung. Zu welchem Teil der Menschheit gehöre ich? Und wo gerät meine Toleranz an ihre Grenzen?
Geschenke. Macht Schenken noch Freude? Wo jeder sich sein Geschenk gut selbst kaufen könnte? Selbst Kinder maulen „Und wo ist meine Play Station?“ statt sich über den teuren Chemiebaukasten zu freuen. Im materiellen Überfluss enthüllen Geschenke ihren wahren Charakter. Sie prüfen: Wer bekommt überhaupt ein Geschenk? Wer nicht? Ist mein Geschenk wertvoller als das von Benjamin? Wie gut kennt mich der Schenkende? Hat er meinen Wunsch erfüllt oder eher seinen? Oder ist das Geschenk völlig daneben und ich denke beim Auspacken schon über das unauffällige Entsorgen nach?
Hektik und Pflichten. Wenn der Stress so eine Last ist, warum tun wir dann nicht alles, um ihn zu vermeiden? Warum stürzen wir uns in den Trubel verkaufsoffener Sonntage, basteln am Tannenbaum herum, verbringen Stunden in der Küche? Zu Weihnachten können wir uns wichtig fühlen. Ohne uns würde das Fest doch ins Wasser fallen? Wir werden gebraucht. Selbst Arbeitslose und Rentner laufen zu Hochform auf. Jetzt ist jede familiäre Arbeitskraft gefragt.
Jahresendrallye. Ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass sich ab November die Termine häufen? Auch solche, die überhaupt nichts mit Weihnachten zu tun haben? Zum Jahresende versucht jeder, noch seine persönliche Bilanz in Ordnung zu bringen. Lang vor sich hergeschobene Dinge müssen noch schnell erledigt werden. Keiner will über den 31. Dezember unerledigte Vorhaben mitschleppen. Das neue Jahr soll wirklich neu sein. Ohne Ballast aus dem Vorjahr. Der Stress vor Weihnachten gibt uns das gute Gefühl, wir tun alles Menschenmögliche, um unsere Jahrespläne noch zu erfüllen. Was wir da nicht schaffen, war nicht zu schaffen.
Schlemmerei. Alle Diätversuche des Jahres sind vergessen. Schokoweihnachtsmänner, Kekse, zuckerglasierte Mandeln, Gänsebraten – es wird aufgetragen, was die Geschäfte hergeben. Das Essen ist eine Belohnung für den bewältigten Adventsstress. Für die Entbehrungen im Laufe des Jahres. Und ein Ausgleich für den erhöhten Kalorienbedarf durch Hektik und Kälte. Und nicht zuletzt liefert die Schlemmerei uns den perfekten Anlass für gute Vorsätze: Im neuen Jahr weniger essen und mehr Sport.
Wenn Sie am Ende das Gefühl haben sollten, der ganze Aufwand war die wenigen festlichen Stunden nicht wert – auch das ist mehr als bloßer Zufall. Lehrt nicht das Christentum die Vergeblichkeit menschlichen Strebens? Weihnachten liefert da eine praktische Lektion. Eine Lektion, die wir jedes Jahr von neuem brauchen. Warum sonst würden wir uns das immer wieder antun?
veröffentlicht im Dezember 2008 © by www.berlinx.de
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