Wie Sie es schaffen, Zuhörer in Ihren Bann ziehen

Im Winter, wenn die Tage kurz und die Nächte lang sind, beginnt wieder die Zeit des Märchenerzählens. Aber auch unterm Weihnachtsbaum, Silvesterpartys oder an langen Winterabenden ist gefragt, wer durch aufregende Geschichten für Unterhaltung sorgt. Wie es geht, verrät EGONet.

Können Sie so spannend erzählen, daß die Leute an Ihren Lippen hängen und alle anderen Gespräche um Sie verstummen? Menschen mit Charisma beherrschen diese Kunst. Es liegt keineswegs daran, daß sie mehr und Außergewöhnlicheres erlebt haben als Otto Normalbürger. Sie haben lediglich die Fähigkeit, Alltägliches so darzustellen, daß es die Aufmerksamkeit fesselt. Die Erzählung, die die Zuhörer in ihren Bann zieht, muß die Neugier wecken und im Banalen das Besondere entdecken.

Wie so häufig in der Kommunikation kommt es mehr auf das Wie an als auf das Was. Wie präsentieren Sie ein Alltagserlebnis, damit die Umstehenden sich Ihnen zuwenden und niemand Sie zu unterbrechen wagt?

Überprüfen Sie zunächst, ob Ihr Erlebnis zu Ihrer Zielgruppe paßt. Ein Bericht über einen außergewöhnlichen Riesenbarsch, den Sie letzten Sonntag fingen, wird bei Nichtanglern kaum die Beachtung finden, die er verdient, während die Erzählung von der Einschulung Ihrer Tochter vielleicht auf neugierige Ohren stößt, obwohl sie sich nicht von tausend anderen Einschulungen unterschied.

Wenn Sie sich für eine passende Geschichte entschieden haben: Überlegen Sie sich, bevor Sie anfangen, zuerst das Ende der Geschichte. Wie endet sie und welche Erkenntnis, welches Fazit wollen Sie mit ihr übermitteln? Sie alle kennen den peinlichen Moment, wenn jemand einen Witz erzählt und mittendrin merkt, daß er sich an die Pointe nicht mehr erinnern kann.

Das ist aber nicht der einzige Grund, warum das Ende für Sie als Erzähler der Anfang ist. Wenn Sie die Zuhörer bei der Stange halten wollen, müssen Sie Spannung aufbauen. Zu diesem Zweck werden Sie am Anfang ein Geheimnis, ein Rätsel oder eine andere Überraschung ankündigen, die sich am Schluß Ihrer Geschichte erfüllt. Das können Sie nur, wenn Sie von vornherein wissen, wie die Auflösung lautet. Auch die meisten Roman- und Drehbuchautoren fangen erst an zu schreiben, wenn sie sich im klaren sind, wie ihr Werk enden soll.

In Ihrem ersten Satz wecken Sie die Neugier. Die einfachste Variante zeigt das folgende Beispiel: Sie haben gerade sich gerade auf einer Party in einer Gruppe angeregt über irgendein Thema unterhalten, sagen wir über Klassentreffen. Nur Sie können gar nichts beisteuern, weil Ihre frühere Schulklasse offenbar die einzige ist, die sich in alle Winde zerstreut hat. Da sagen Sie:

„Apropos Klassentreffen. Mir ist da neulich etwas ganz Unglaubliches passiert. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, daß jemand nach Jahren bei einem zufälligen Wiedersehen eine Klassenkameradin nicht wiedererkennt. Aber würdet ihr auch den genau gegenteiligen Fall für möglich halten? Genau das ist mir vorige Wochen passiert.“

Nun? Neugierig geworden? Die Motivierung der Zuhörer schließt drei Schritte ein:

  1. Überleiten vom Gesprächsthema zu Ihrer Geschichte. In unserem Beispiel sagte der Erzähler nur „Apropos Klassentreffen“ – die sparsamste Variante. Er hätte auch sagen können: „Ihr habt es gut! Könnt ihr euch vorstellen, was für komische Verwechslungen möglich sind, wenn man seine Klassenkameraden zwanzig Jahre lang nicht gesehen hat?“
  2. Etwas Außergewöhnliches versprechen. Alles, was aus dem Rahmen des Normalen fällt, was bizarr, über- oder unterdurchschnittlich, seltsam oder rätselhaft ist, motiviert zum Zuhören. In unserem Beispiel lautete das Versprechen: „Mir ist da neulich etwas ganz Unglaubliches passiert.“ Natürlich müssen Sie Ihr Versprechen am Ende auch halten, sonst sind Ihre Zuhörer enttäuscht, nicht nur von Ihrer Erzählung, sondern von Ihrer Person. Wenn Sie in der Tat ein tolles Erlebnis anzubieten haben, werden Sie die Erwartungen ohne Probleme erfüllen. Wenn nicht, müssen Sie Ihr Erlebnis in außergewöhnlicher Weise erzählen, also alle folgenden Tipps genau befolgen und gut umsetzen.
  3. Eine Spannungsfrage stellen. Sie nennt ein Rätsel, das im Verlauf der Erzählung gelöst werden soll. In unserem Beispiel besteht sie aus zwei Teilen. Im ersten Satz („Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, daß jemand nach Jahren bei einem zufälligen Wiedersehen eine Klassenkameradin nicht wiedererkennt.“) knüpft der Erzähler an eine plausible Alltagserfahrung an. Im zweiten Teil („Aber würdet ihr auch den genau gegenteiligen Fall für möglich halten?“) kündigt er eine Widerlegung dieser Alltagserwartung an. Jeder fragt sich unwillkürlich: Wie kann das sein? Um das zu erfahren, muß er das Ende der Geschichte abwarten. Der Erzähler kann die Spannungsfrage natürlich nur stellen, weil er das Ende, die Lösung schon kennt. Aber statt sie sofort zu beantworten, zögert er die Enthüllung hinaus und erzählt statt dessen ein Geschichte, die das Geheimnis nur Schritt für Schritt Preis gibt.

Stellen Sie eine Person mit einer charakteristischen Eigenschaft in den Mittelpunkt Ihrer Erzählung. In unserem Fall ist es der Erzähler selbst. Seine Eigenschaft (siehe weiter unten): Ängstlichkeit, deswegen Wunsch nach Ablenkung. Der Erzähler könnte aber genauso gut über seinen besten Freund oder einen Prominenten berichten. Wichtig ist, daß die Person Individualität besitzt. Für eine kurze, anekdotenhafte Geschichte im Rahmen einer abendlichen Unterhaltung genügt meist eine typische Charaktereigenschaft wie Naivität, Entschlossenheit, Unsicherheit, Sparsamkeit, Verschwendungssucht oder ähnliches. Dadurch kann sich der Zuhörer mit dem Helden Ihrer Erzählung identifizieren. Er kann vergleichen und sich fragen: Würde ich an seiner Stelle genauso reagieren?

In einem literarischen Werk würde der Autor den Charakter komplizierter gestalten, mit inneren Widersprüchen behaftet.

Führen Sie Hindernisse, Komplikationen oder Konflikte in Ihre Geschichte ein. „Romeo und Julia“ wäre langweilig, wenn die beiden sich nur verlieben und dann kriegen würden. Die Spannung entsteht dadurch, daß beide verfeindeten Familien angehören. Bis zum Schluß fiebert der Zuschauer mit: Was ist stärker – die Liebe oder die Feindschaft der Montagues und Capulets? Nur eine Geschichte, wo es anders kommt, als die Hauptperson anfangs dachte, ist erzählenswert. Nur wenn der Held überrascht wird, überraschen Sie auch Ihre Zuhörer.

Erzählen Sie nur, was für das Ende Ihrer Geschichte wirklich notwendig ist. Abschweifungen sind Gift für die Aufmerksamkeit. So interessant es sein mag, daß Ihr Onkel zum Thema Ihrer Geschichte mal etwas Tolles gesagt hat – wenn es den Erzählfluß aufhält, lassen Sie es weg. Sie können darüber ja hinterher eine zweite Geschichte erzählen.

Füllen Sie den Erzählstrang mit Details. Das weckt die Vorstellungskraft der Zuhörer und läßt sie innerlich mitbeben. Details sind die Würze, die aus banalen Erlebnissen eine hörenswerte Geschichte machen. Unser Erzähler würde viel verschenken, wenn er unmittelbar nach seiner Spannungsfrage sofort sagen würde: „Gestern betrat ich die neue Buchhandlung am Markt und sah eine Verkäuferin, in der ich trotz der inzwischen vergangenen Jahre nach kurzem Nachdenken meine frühere Klassenkameradin Renate zu erkennen glaubte.“

Statt dessen sollte er so erzählen, wie er die Begegnung selbst erlebte:

„Gestern früh war ich auf dem Weg zum Zahnarzt, und hatte noch fünf Minuten Zeit. Ich sollte eine Stunde in seinen Stuhl, er wollte mir den Eckzahn für eine Krone abschleifen. Wie Sie sich denken können, war mit jede Gelegenheit recht, den Moment noch etwas hinauszuzögern. Da fiel mein Blick in das Schaufenster unserer neuen Buchhandlung am Markt. Ich suchte nichts Bestimmtes, meine Regale sind sowieso schon übervoll und so kam es, wie es kommen mußte. Ich trat durch die Tür, die Glocke schlug an und eine Verkäuferin in meinem Alter trat auf mich zu und fragte den üblichen, lästigen Satz: ,Kann ich Ihnen helfen?’

Ich schüttelte den Kopf und schaute ihr erst dann ins Gesicht. Moment, dachte ich, diese Augen und der schräge Haaransatz, die kleine, etwas zur Seite gekrümmte Nase, das leicht vorstehende Kinn und der Mund mit den schmalen Lippen – es waren zwanzig Jahre vergangen, aber ich erkannte meine frühere Klassenkameradin Renate sofort. Sie hatte sich für dasselbe Studienfach entschieden wie ich, nur an einer anderen Universität . Wir hatten uns vorgenommen, in Verbindung zu bleiben, unsere Erfahrungen auszutauschen, aber wie das Leben so spielt, nach zwei oder drei Briefen schlief der Kontakt ein und wir hörten nie wieder etwas voneinander. ,Renate!’ rief ich. ,Ich bin es, Michael. Nach so vielen Jahren … Aber wieso arbeitest du in dieser Buchhandlung? Was ist aus deinem Lehramtstudium geworden? Du wolltest doch Biologie und Erdkunde unterrichten, wie ich!“

Setzen Sie vor das Ende eine unerwartete Wendung. Erzählen Sie so, daß die Hörer nicht das Ende erwarten, das Sie vorbereitet haben, sondern sein Gegenteil. In unserem Beispiel rechnet der Hörer damit, daß Sie nach zwanzig Jahren eine Klassenkameradin an einem unerwarteten Ort wiederfanden. Wie erstaunt wird er sein zu hören, daß – wie in der Spannungsfrage angedeutet – genau diese Erwartung nicht eintraf:

„Die Frau vor mir starrte mich zwei Sekunden ungläubig an, dann brach sie in Lachen aus. ,Wissen Sie, das ist mir schon lange nicht mehr passiert, daß man mich mit ihr verwechselt. Renate ist meine Cousine. Sie arbeitet als Lehrerin, da haben Sie ganz recht. Schon als Kinder hat man uns nur schwer auseinanderhalten können. Wir ähneln beide mehr unseren Vätern als unseren Müttern. Und die waren Zwillingsbrüder.’“

Wenn Sie auf Nummer sicher gehen wollen: Bereiten Sie einige spannende Anekdoten zu Hause vor, und erzählen Sie sie bei Bedarf. Aus dem Stegreif erfinden Sie Geschichten erst dann, wenn Sie schon einige Male Gelegenheit hatten, die Reaktion der Zuhörer auf Ihre vorbereiteten Anekdoten zu testen, und aus Erfahrung wissen, was die Neugier reizt und was nicht.

Januar 2000 © by www.berlinx.de

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