Warum Treue und Co. wieder hoch im Kurs stehen
Alle Jahre wieder entdecken wir unsere großzügige Seite. Wir beschenken unsere Lieben, besuchen fast vergessene Familienangehörige und singen besinnliche Lieder. Soziologen entdeckten in ihren jüngsten Umfragen, dass immer mehr Menschen die alten Tugenden nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern auf Dauer praktizieren möchten.
Die 68er sagten der Familie den Kampf an, die Generation Golf schwor dem sozialen Engagement ab, um das Leben im Konsumrausch zu genießen. Doch heute – wo Meldungen von Terrorismus, Langzeitarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise die Nachrichten dominieren – kündigt sich eine Rückkehr zu den Werten der fünfziger Jahre an, als Optimismus und Wirtschaftswunder den deutschen Alltag bestimmten. Kommen die alten Tugenden und mit ihnen ein Ende aller Probleme zurück?
Schauen wir uns die wichtigsten der neuen alten Ideale an und vergleichen wir sie mit der Wirklichkeit:
Familie. Wenn Job und Einkommen unsicher sind, wünschen wir uns einen Partner, der in allen Lebenskrisen fest an unserer Seite steht. Der Harmonie und Geborgenheit bietet. 72 Prozent aller Deutschen träumen laut einer Gewis-Umfrage von Heirat und Ehe „bis daß der Tod uns scheidet“. Unter Jugendlichen sind es sogar 88 Prozent! Unter den Jüngeren wächst also die Sehnsucht nach dauerhafter Liebe. Gehen die Scheidungszahlen zurück? Im Gegenteil. Rund 200 000 Ehen werden zur Zeit pro Jahr in Deutschland geschieden. Und sie halten immer kürzere Zeit. Was bedeutet, dass besonders junge Ehen gefährdet sind. Die Scheidungszahlen steigen, obwohl immer weniger Ehen geschlossen werden.
Treue. Die Zahl derer, für die eine erfüllende Partnerschaft ohne Treue undenkbar ist, wächst von Jahr zu Jahr. 96 Prozent halten Treue für die wichtigste Bedingung im Liebesglück. Anonyme Befragungen ergeben jedoch, dass mindestens jede(r) zweite einmal oder öfter fremd geht. Früher gaben Männer mehr Seitensprünge zu als Frauen. Inzwischen haben Experten herausgefunden, dass der Unterschied darauf zurückzuführen ist, daß beide Geschlechter sogar in den anonymen Befragungen schummeln. Männer übertreiben gern die Zahl ihrer Eroberungen, Frauen „vergessen“ Seitensprünge, die ihnen hinterher peinlich sind. Das zeigt auch: Man wünscht vor allem, dass der Partner treu sein soll. Der eigene Seitensprung ist dagegen eine Bagatelle.
Sparsamkeit. 81 Prozent wollen weniger Geld ausgeben. Im Luxus schwelgen – die goldenen Zeiten sind vorbei. Doch auch hier klaffen zwischen gutem Vorsatz und Wirklichkeit eine Lücke. Zwar verzeichnen die Bausparkassen einen Zuwachs der Sparsumme um rund fünf Prozent. Das sind aber zum großen Teile Restgelder, die aus dem Aktienzusammenbruch gerettet wurden. In Wahrheit ist die Sparquote der deutschen Haushalte längst wieder unter 10 Prozent des verfügbaren Einkommens gesunken. So wenig wurde zuletzt Anfang der 60er Jahre gespart. Zugleich steigen die Schulden und die Zahl der Insolvenzen. Trotzdem sind wir Deutschen immer noch reich. Das durchschnittliche Vermögen eines deutschen Haushalts beträgt fast 200 000 Euro – leider sehr ungleichmäßig verteilt.
Höflichkeit. Benimmkurse sind ausgebucht, gutes Benehmen ist in. Moral und rücksichtsvolle Umgangsformen befürworten 19 von 20 Befragten. Handkuß und Tür aufhalten wirken auf einmal nicht mehr lächerlich. Studien zu den Motiven der Kniggefans von heute ernüchtern. Nicht die Achtung vor dem Mitmenschen, sondern die Hoffnung, auf dem umkämpften Arbeitsmarkt unliebsame Konkurrenten ausstechen zu können, ist der Grund für den Benimm-Boom. Wer einen Benimmkurs absolviert hat, nutzt sein Wissen vor allem, um andere bei Verstößen gegen die gerade gelernten Höflichkeitsregeln zu ertappen, berichtete die Zeitschrift Psychologie heute. Dagegen verbessern nur wenige ihr eigenes Benehmen.
Unsere Schlussfolgerung lautet: Die Rückbesinnung auf traditionelle Werte findet bisher vor allem im Kopf statt. Angesichts der rauen Wirklichkeit wünschen wir uns Geborgenheit und Sicherheit. Wir wünschen uns mehr Entgegenkommen von unseren Mitmenschen. Da es aber in den Familien, auf den Sparkonten und im sozialen Miteinander weiterhin kräftig kriselt, klafft die Schere zwischen Wunsch und Wirklichkeit weiter auseinander.
Ein guter Vorsatz für das neue Jahr wäre: „Ich werde liebevoll, zuverlässig, sparsam und stets höflich handeln, ohne das gleiche von meinen Mitmenschen zu verlangen.“ Nur wer ohne Vorbedingung mit gutem Beispiel vorangeht, darf hoffen, dass es eines Tages so aus dem Wald herausschallt, wie er vorher hineingerufen hat.
Dezember 2003 © by www.berlinx.de
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