Im Alltag denken und urteilen
Wissen Sie immer, was Ihnen nützt und was Ihnen schadet?
Können Sie gut und böse unterscheiden?
Sagt Ihnen Ihre Intuition, was richtig und was falsch ist?
Der gesunde Menschenverstand reicht für den Alltag völlig aus. Oder?
Lena beobachtet ihre Freundin Katja: „Wie du das süße Zeug in hineinstopfst, das kann nicht gesund sein.“
„Wenn es mir aber schmeckt“, antwortet Katja. „Im übrigen bin ich kerngesund.“
„Das wird aber nicht so bleiben.“
„Woher willst du das wissen?“
„Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand.“
„Der gesunde Menschenverstand spricht immer zu spät“, meint Philip Marlowe, der berühmte Detektiv, in dem Krimiklassiker „Playback“ von Raymond Chandler. „Der gesunde Menschenverstand ist der Kerl, der dir sagt, du hättest die Bremsbeläge erneuern lassen sollen, bevor du diese Woche jemandem hinten draufgefahren bist.“
Wer also ist dieser „gesunde Menschenverstand“, auf den wir uns so oft berufen? Kluger Ratgeber im Alltag oder Wegweiser in die Irre? Wie zuverlässig sind seine Urteile?
Im 18. Jahrhundert entwickelte der Schotte Thomas Reid eine Philosophie des common sense, wie der gesunde Menschenverstand auf englisch heißt. In seiner Zeit blühte der Skeptizismus. Einflussreiche Denker bezweifelten, dass wir Menschen überhaupt etwas Zuverlässiges über die Welt wissen können. Reid vertraute dem Alltagsdenken. Es zeige uns die Dinge um uns herum, wie sie sind.
Unsere Alltagsurteile sind besonders gut im Bereich der mittleren Dimensionen. Also bei Größen von wenigen Millimeter bis einigen hundert Metern. In der Welt der Atome und Galaxien dagegen brauchen wir die Wissenschaft, um hinter die Erscheinungen zu blicken.
Der gesunde Menschenverstand verknüpft die Daten unserer Sinne mit kausalem Denken. Wir registrieren, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Anschließend schlussfolgern wir, was die Ursache dieser Sinneseindrücke ist, und überlegen, was weiter geschehen könnte. Und wie wir selbst Einfluss nehmen können.
Dieses Alltagsdenken funktioniert meist prima. Wir sehen ein Auto heranrasen und ahnen, dass wir rasch beiseite springen sollten. Wir hören in der Ferne Donner am Himmel und suchen rasch unsere schützenden vier Wände auf. Wir spüren Kälte und ziehen deshalb eine dickere Jacke an.
Sogar mit Irrtümern leben wir recht gut. Wir sagen „Die Sonne geht auf“ und ignorieren, dass in Wahrheit die Erde sich vor der Sonne vorbeidreht. Wir freuen uns über den blauen Himmel, halten vor roten Ampeln und fahren bei Grün, obwohl Farben eine Illusion unserer Sinne sind. In Wirklichkeit gibt es nur unterschiedliche Wellenlängen des Lichts.
Nur selten fällt es uns auf, wenn der gesunde Menschenverstand sich irrt. In der Regel merken wir es nicht an uns selbst, sondern bei Fehlurteilen anderer Menschen. Unsere eigenen Fehlurteile bemerken wir selbst zuletzt. Sie fallen zuerst anderen auf. Warum ist das so?
Der gesunde Menschenverstand soll uns Sicherheit für unsere Entscheidungen geben. Wir vertrauen ihm nur, wenn wir ihn im Großen und Ganzen für unfehlbar halten. Das gelingt ihm, indem er systematische Denkverzerrungen produziert und seine Irrtümer verbirgt:
1. Bevorzugung von Bestätigungen. Wir alle haben vorgefasste Meinungen. Sind Sie bereit, Ihre Meinung zu korrigieren, wenn Sie widersprechende Informationen erhalten? Fast jeder beantwortet diese Frage mit Ja. In Wirklichkeit neigen wir dazu, Informationen zu sammeln, die unsere Meinung bestätigen. Widersprechendes ignorieren wir oder suchen Gründe, es nicht für glaubhaft zu halten.
2. Personifizierung. Wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir wollen, suchen wir nach jemandem, den wir persönlich verantwortlich machen können. Ob Zugunglück, Naturkatastrophe oder Stellenabbau – wo ist der Schuldige? Dass anonyme Institutionen oder Naturgesetze schuld sind, halten wir für eine faule Ausrede. Wir neigen zum Vermenschlichen von Ursachen und Wirkungen. In der Philosophie heißt diese Denktendenz Anthropomorphismus.
3. Talionsprinzip. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen und steht für den Satz „Wie du mir so ich dir“. Wir erwarten, dass die Dinge der Welt ausbalanciert sind. Eine bedeutendes Ereignis sollte zum Beispiel auch eine bedeutende Ursache haben. Wir möchten nicht glauben, dass ein Weltstar durch einen banalen Unfall ums Leben kommt wie Lady Diana oder von einem verärgerten Nobody erschossen wird wie John Lennon. Ebenso schwer fällt es uns zu akzeptieren, dass ein Massenmörder nicht auch massenhaft bestraft werden kann.
4. Gruppenidentität. Wir neigen dazu, Menschen der eigenen Gruppe zu entschuldigen, wenn sie Mist gebaut haben, aber Fremde scharf zu verurteilen für vergleichbare Sünden. Der Grund ist banal: Wir kennen den Bekannten gut, wir wissen, dass er nicht vorsätzlich Böses tut. Fremde sind uns dagegen fremd, sie könnten üble Teufel sein.
5. Sicheres Wissen suchen. Wir können Ungewissheit und Zweifel nur schwer ertragen. Beides lähmt unser Handeln. Zum Beispiel werden Sie nur dann in eine Frucht beißen, wenn Sie sich sicher sind, dass sie nicht giftig ist. Darum bevorzugen wir Experten, die im Brustton der Überzeugung sagen: „Das ist hundertprozentig sicher.“
6. Geschichten statt Statistiken. Der gesunde Menschenverstand bevorzugt persönliche Erlebnisse. Der neunzigjährige Raucher aus der Nachbarschaft beeindruckt stärker als „Zehn Prozent aller Raucher bekommen Lungenkrebs“.
veröffentlicht im November 2013 © by www.berlinx.de
Hinterlasse einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar schreiben zu können.