Gewissheit ohne Wissen
Es gibt Menschen, die bereit sind, für ihre Überzeugungen zu sterben. Millionen Menschen schwören auf ihre innere Gewissheit. Was zählen da Wissenschaft und rationale Überlegung! Woher kommt die Kraft des Glaubens?
Ein Ungläubiger stirbt und soll plötzlich vor seinem Schöpfer Rechenschaft ablegen. „Tut mit leid, Herr,“ sagte er, „aber du hast mir mein Leben lang keinen Hinweis auf deine Existenz gegeben.“
Warum glauben wir, obwohl Gott sich nicht zeigt? Mit der Aufklärung war einst die Macht der Religionen ins Wanken geraten. Marx nannte sie „Opium des Volkes“ – also einen falschen, süchtig machenden Trost – und glaubte, sie würden mit wachsendem Wohlstand aussterben. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Machtvoll melden sich die Religionen auf der Weltbühne zurück und fordern, Gotteslästerung wieder unter Strafe zu stellen.
Wer eine Antwort sucht, muss zunächst drei Arten von Glauben unterscheiden – Vermutungen, vorläufige Annahmen und den „reinen“ Glauben:
Mit Vermutungen haben wir es zu tun, wenn jemand eine Wissensfrage stellt, z.B. „Wann wurde Goethe geboren?“ und die Antwort erhält: „Ich glaube, 1749.“ Ein Blick ins Lexikon genügt, um den Glauben in Wissen zu verwandeln. Das Gleiche gilt für Voraussagen für einen bestimmten Zeitpunkt: „Ich glaube, es wird morgen regnen.“ Oder: „Jana wird garantiert ein Einser-Abitur machen.“ Ist der Termin eingetroffen, wissen wir, ob die Vermutung richtig war oder nicht.
Vorläufige Annahmen finden wir in der Wissenschaft. Einsteins Relativitätstheorie gilt als sicheres Fundament der Physik, aber das könnte sich eines Tages ändern. Dunkle Materie und Energie lassen Zweifel an ihrer universellen Gültigkeit aufkommen. Auch NewtonsGesetze galten einstmals als endgültiges Wissen – bis Einstein zeigte, dass sie nur im Bereich geringer Geschwindigkeiten gelten. Unser Wissen ist immer vorläufiges Wissen. „Glaube“ heißt hier: Wir glauben momentan, dass unser Wissen mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Doch kann es eines Tages durch besseres Wissen widerlegt werden.
Der „reine“ Glaube steht im Gegensatz zum Wissen. An Gott kann man nur glauben – keine Erfahrung kann diesen Glauben widerlegen. Das gleiche gilt für den Glauben an Wunder. Der Kirchenvater Tertullian schrieb im 2. Jahrhundert: „Gestorben ist Gottes Sohn, es ist ganz glaubhaft, weil es töricht ist.“ In der Kurzfassung „Ich glaube, weil es absurd ist (creo quia absurdum)“, gehört der Satz zu den bekanntesten Zitaten der Theologie. Anders steht es mit abgeleiteten Glaubenssätzen. Dass Gott die Welt in sechs Tagen geschaffen habe, glauben angesichts der Resultate von Geologie, Astronomie und Biologie nur noch hartgesottene Fundamentalisten. Selbst die katholische Kirche glaubt offiziell, dass der Urknall der Physiker vor 13,7 Milliarden Jahren der Anfang der Schöpfung war.
Warum akzeptieren wir „reinen“ Glauben als Wahrheitsbeweis? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen:
Tradition. Bei uns dominieren die Christen, im Orient der Islam. Wir glauben, was unsere Eltern glauben. Das gilt auch für Atheisten. Entscheidend ist das Vorbild der Eltern – manchmal auch von Lehrern und Priestern. Wenn das Kind erlebt, dass seine Eltern von ihrem Glauben überzeugt sind, neigt es dazu, ihre Überzeugungen zu übernehmen.
Erweckung. Manche Menschen berichten von einem übernatürlichen Erlebnis. Gott oder ein von ihm gesandter Bote habe zu ihm gesprochen. Wissenschaftler versuchen eine rationale Erklärung zu finden. Sie sprechen von Autosuggestion und weisen darauf hin, dass man nur von einer Religion erweckt wird, von der man schon gehört hat. Das heißt, auf christlichem Territorium erscheint die Jungfrau Maria, im nahen Osten eher der Prophet Mohammed.
Sinnsuche. Nach Auschwitz an Gott glauben sollte schwer fallen. Doch im Gegenteil: Je unverständlicher das Böse und Sinnlose in der Welt auftritt, desto größer das Bedürfnis, die Verantwortung einer übergeordneten Autorität zu übertragen, deren Motive wir nicht verstehen, weil Gott dem Menschen unendlich überlegen ist.
Gottes-Gen. Liegt uns der Glaube im Blut? Das behauptet zum Beispiel Dean Hamer in seinem gleichnamigen Buch. Wie kann es dann sein, dass immer mehr Menschen ihren Glauben aufgeben und aus der Kirche austreten? Die Fähigkeit zur Hingabe und die Bereitschaft, einer Autorität zu folgen, könnten jedoch eine biologische Basis haben. Sie erleichtern den Schritt vom Zweifel zum Glauben.
Gemeinschaft. Ohne Glauben sind wir in der individualisierten Gesellschaft einsam. Religion bietet eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Diese Gemeinschaft tröstet auch dann, wenn sie nur in der Vorstellung präsent ist – etwa dem Betenden in Gefangenschaft.
Erlösung. Alle träumen von einer besseren Zukunft, auch Atheisten. Die Hoffnung, dass am Ende ein besseres Leben steht, ist allen Religionen gemeinsam. Nur die Formen sind verschieden. Für Christen ist es das Paradies, für Marxisten die klassenlose Gesellschaft, für Buddhisten eine Folge von Seelenwanderungen bis zur Erlösung im Nirwana.
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veröffentlicht im Dezember 2012 © by www.berlinx.de
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