Warum gehen die größten Gefahren von uns selbst aus?
Wir fürchten uns vor Spinnen, Erdbeben, Monsterwellen und weißen Haien. Die Angst vor einer unberechenbaren Natur scheint tief in uns verankert zu sein. Doch weshalb ängstigen wir uns so wenig vor den Folgen unseres eigenen Handelns?
Als Kind eignen wir uns ein Urvertrauen zur Mutter und anderen nahen Bezugspersonen an. Später vertrauen wir Lehrern, Mitschülern, Kollegen – ja sogar so anonymen Institutionen wie Geldscheinen und den Banken, denen wir unsere Ersparnisse anvertrauen. Klar, wir sind zugleich vorsichtig. Wir verschließen abends unsere Türen und lassen nicht jeden ein, der draußen klingelt. Doch diese Vorsicht gilt nur Fremden gegenüber, vor allem, wenn sie ausländisch aussehen. Wir behandeln sie genau wie eine Naturgewalt, gegen die wir Dämme bauen. Freunden, Partnern und Gleichgesinnten öffnen wir unsere Türen und unsere Herzen.
Diese scharfe Unterscheidung zwischen Vertraut und Fremd teilen alle Völker. Da jeder seinen eigenen Nächsten vertraut, können wir Menschen keine objektive Übereinkunft erzielen, wer Vertrauen verdient und wer nicht. Das Fremde, das Misstrauen verdient, das sind immer die anderen. Ausgerechnet der japanische Atomunfall hat dies erneut unter Beweis gestellt.
Nach Tschernobyl hatten die meisten Länder weiter auf Atomkraft gesetzt. Tschernobyl – das war fremde, „realsozialistische“ Schlamperei. Die eigenen AKWs waren sicher. Zur Zeit wiederholt sich das Muster. Japan – das liegt in einem Erdbebengebiet! Wir vergessen, dass ein Stromausfall in Fukushima schuld war am neuen Störfall. Das Erdbeben war nur sein Auslöser. Wer kann sagen, wie groß das „Restrisiko“ eines Stromausfalls bei uns ist? Auch die japanische Stromversorgung war gegen alle „denkbaren“ Eventualitäten mehrfach abgesichert.
„Restrisiko“ hat gute Chancen, das Unwort des Jahres 2011 zu werden. Die Wissenschaft berechnet Risiken – das „Rest“-Risiko ist eine Erfindung der Politik. Das zeigt eine einfache Überlegung. Niemand weiß genau, wie gefährdet Kernkraftwerke sind. Nach offiziellen Berechnungen sollten AKWs höchstens alle 10 000 Jahren einen Super-GAU erleiden. Nehmen wir mal probeweise an, das stimmt (auch wenn die Erfahrung längst das Gegenteil bewiesen hat). Dann beträgt das Risiko der unkontrollierten Kernschmelze ein Zehntausendstel, also 0,01 Prozent. Das wäre das Gesamtrisiko. Was ist nun das Restrisiko?
Zum Restrisiko gelangt man durch einen Trick. Man teilt das Gesamtrisiko in einen sicheren und einen unsicheren Teil. Der unsichere Teil, jene 0,01 Prozent, sind dann das Restrisiko. Diese Denkweise ist fehlerhaft:
- Sie setzt voraus, dass man vorher weiß, wo die Gefahr lauert. In der Tat werden AKWs gegen jede bekannte Gefahr gesichert. Aber wir wissen – die Katastrophe lauert stets in einer Gefahr, mit der niemand gerechnet hat. Sonst hätte man vorgesorgt.
- Wäre es möglich, diese Teilung in Sicher und Rest vorzunehmen, wäre der Rest von 0,01 Prozent kein mögliches Risiko, sondern 100 Prozent sichere Katastrophe – eben der eine Super-GAU innerhalb von 10 000 Jahren. Das Wort „Restrisiko“ stuft die vorher berechnete Katastrophen-Erwartung zu einer beherrschbaren Gefahr herab – also etwas, was wieder teilweise sicher und teilweise unsicher ist. In mehreren aufeinander folgenden Rechenschritten kann man so das Risiko elegant zum Verschwinden bringen – natürlich nur auf dem Papier.
Es wäre leicht, die Trickser als bösartige Betrüger zu betrachten. Leider ist es viel schlimmer. Sie sind auch nur Menschen. Sie vertrauen ihren eigenen guten Absichten und ihrer Sorgfalt beim Vorbeugen gegen bekannte Risiken. Sie sehen wie wir alle nur die Schlampereien anderer. Sie sind blind für die nicht erkannten Folgen ihres eigenen Tuns.
Die Teilung der Welt in Vertraut und Fremd stammt aus der Urzeit. Damals war die Welt einfach. Hier die gefährdete Gruppe – da die feindliche Natur. Forscher der Universität Amsterdam zeigten, das ausgerechnet das Kuschelhormon Oxytocin für unsere vereinfachte Weltsicht verantwortlich ist. Gegenüber Mitgliedern unserer eigenen Gruppe macht es uns einfühlsam und vertrauensselig. Nach außen aber verstärkt es Aggressionen, die bis zur Fremdenfeindlichkeit reichen können.
Diese Zweiteilung passt nicht mehr zu den modernen Risiken der technisierten und globalisierten Welt. Längst verursachen wir selbst die größten Gefahren für unser Gut und Leben. Die Natur von heute ist eine von uns veränderte Natur. Dazu gehören nicht nur Atomkraft, ölverschmutzte Ozeane und Klimaerwärmung – denken Sie auch an die Gefahren Ihres vertrauten Alltags:
- Selbstmorde, riskantes Autofahren und Heimwerken im Haushalt fordern jedes Jahr Tausende Tote. Trotzdem fürchten wir uns mehr vor Hornissen als vor Steckdosen. Morde und Terroristen sind zwar in den Medien ständig präsent, ihre Todesanteil liegt jedoch weit unter einem Prozent.
- Wir fordern energische Maßnahmen gegen Chemie in Lebensmitteln, Straßenlärm und Feinstaub. 99 Prozent der Gesundheitsschäden gehen in diesen Bereichen jedoch von fett- und zuckerreicher Ernährung, mp3-Playern und Zigaretten aus.
- Fremdenfurcht hat in den Medien Hochkonjunktur. Die meisten Täter bei Betrug, Mord und Vergewaltigung stammen jedoch aus dem nahen Bekanntenkreis.
Unser Buchtipp:
Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Suhrkamp Taschenbuch, € 12,50
25 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch hochaktuell!
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veröffentlicht im Mai 2011 © by www.berlinx.de
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