Einerseits leben wir in einer Welt der Medien und Models. Andererseits hören wir immer wieder, letztlich käme es auf die inneren Werte an. Wie viel bedeuten uns Äußerlichkeiten? Unser Autor Frank Naumann hat diese Frage in seinem neuen Buch ausführlich untersucht. Egonet stellt es vor.
Eislaufprinzessin Katharina Witt erklärte im Interview: „Die innere Haltung und Erfahrung, die er ausstrahlt, machen einen Menschen schön.“ Sollte ihr Promistatus und ihr Vermögen von über 150 Millionen Euro nichts mit ihren körperlichen Vorzügen zu tun haben? Ein Spitzenforscher erhält mit dem Nobelpreis 1,1 Millionen für sein Lebenswerk, eine Spitzenschauspielerin wie Sharon Stone mehr als das Zehnfache – pro Film. Harald Schmidt fragte mit entwaffnender Ehrlichkeit: „… haben wir nicht schon oft erfahren, dass uns Bekenntnisse einer schönen Seele nicht interessieren, wenn sie aus einem hässlichen Körper kommen?“
Schönheit ist ungerecht. Noch vor jeder Leistung sind einige Glückskinder genetisch im Vorteil. Zwar benötigen auch Musiker, Mathematiker und Sportler angeborenes Talent, wenn sie überdurchschnittliche Leistungen erbringen wollen. Doch ihre Begabung braucht Jahre harten Trainierens, um sich zu entfalten. Der Schönheit reichen nur wenige Sekunden. Dann hat der Betrachter entschieden, wer auf ihn anziehend wirkt und wer nicht.
Schönheit liegt keineswegs nur im Auge des Betrachters. So verschieden die Geschmäcker sein mögen – wir verstehen einander sofort, wenn einer das Wort „schön“ ausspricht. Es muss also hinter der Verschiedenheit etwas Gemeinsames geben. Antike Bildhauer haben ihr Geheimnis als erstes entschlüsselt. Schönheit ist Durchschnitt – ebenmäßiges Mittelmaß. In Kursen für Maler können Sie ihre Regeln erlernen.
Wenn Schönheit der Durchschnitt ist – warum ist sie dann so selten? Warum hat uns die natürliche Evolution nicht alle mit mustergültiger Schönheit ausgestattet? Wäre sie nicht für die Weitergabe unserer Gene vorteilhaft gewesen? Warum ist unser Aussehen mit so vielen Fehlern behaftet?
Die Antwort lautet: Das Ziel makelloser Schönheit stand im Konflikt mit Wiedererkennbarkeit und Individualität. Totales Ebenmaß wirkt langweilig. Perfekte Schönheit besitzt keine Individualität. Sie verfügt über kein einziges, für die Person charakteristisches Merkmal. Sie hat nichts, was sich dem Gedächtnis einprägen kann. Die Folge: Die absolute Schönheit wird sofort wieder vergessen. Nur was vom Mittelmaß abweicht, was sich von anderen unterscheidet, bleibt in der Erinnerung haften. Um dies zu überprüfen, brauchen Sie nur einen Modekatalog durchzublättern. Je ähnlicher sich die Models sind, desto schlechter können Sie sich hinterher an sie erinnern. Irgendwie sahen sie alle gleich aus.
Extreme jenseits des unauffälligen Durchschnitts sind der Grund, warum Frankensteins Monster, King Kong und der Glöckner von Notre-Dame so beliebt sind. Sie sind leicht wiederzuerkennen. Klemmen Sie sich zum Karneval zwei lange Eckzähne ins Gebiss und werfen Sie sich einen schwarzen Umhang über Ihre Schulter. Schon weiß jeder: Aha, Dracula.
Bleibt die Frage zu beantworten: Warum bewerten wir dann überhaupt das Mittelmaß als schön? Und nicht die Abweichung? Warum empfinden wir Extreme – einen Buckel, ein Riesenkinn, mit Pusteln übersäte Haut oder verkümmerte Gliedmaßen – als monströs? Werfen wir dazu einen Blick auf die Wirkmechanismen der Evolution.
Heringe, Singvögel, Antilopen und viele andere Tierarten leben in Herden oder Schwärmen. Nicht aus Sympathie füreinander, sondern zum Selbstschutz. Die Masse gleich aussehender Artgenossen verwirrt Haie, Adler, Löwen und andere Raubtiere. Es fällt den Räubern schwer, ein einzelnes Opfer herauszupicken, wenn alle gleich aussehen. Sie greifen deshalb Tiere an, die sich durch irgendwelche auffälligen Äußerlichkeiten von der Masse abheben. Meist Kranke oder Jungtiere. Der Biologe Hans Kruuk führte 1972 in der Serengeti den Beweis: Wenn man ein einzelnes Tier in einer Herde mit Farbe markiert, wird es beim nächsten Angriff garantiert getötet.
Auch unsere urzeitlichen Vorfahren lebten in Gruppen und waren nicht nur Jäger, sondern auch die Beute von Wölfen und Säbelzahntigern. Wer da vom Durchschnitt abwich, besaß schlechte Karten, wenn ein Raubtier sich auf die Horde stürzte. Wer hingegen ebenmäßig aussah, hatte gute Chancen in der Masse unterzutauchen und sämtliche Attacken zu überleben. Und das machte sie oder ihn attraktiv für die Familiengründung. So entstand die Macht der Schönheit.
Schöne Menschen leiden vermehrt unter dem Eindruck, nur wegen ihres Aussehens und nicht wegen ihres Charakters und ihrer Kompetenz geschätzt zu werden. Manche glauben auch an eine ausgleichende Gerechtigkeit: Den einen die Schönheit, den anderen die Intelligenz. Zwar fühlen sich mehr Frauen von diesem Vorurteil betroffen, aber schöne Männer leiden stärker. Es entspricht nicht ihrer traditionellen Geschlechterrolle, mit ihrem Aussehen zu punkten.
Zahlreiche Studien haben dieses Vorurteil inzwischen widerlegt. Schöne Menschen genießen viele Vorteile. Bereits schöne Babys werden eher und häufiger in den Arm genommen – und schauen selbst ebenfalls lieber in schöne als in hässliche Gesichter. Und zwar schon in den ersten Lebensmonaten, lange bevor ihnen Papa und Mama beibringen können, wer schön ist und wer nicht. Im Vorschulalter fand die Psychologin Karin Dion in Kindergärten eine erstaunliche Urteilssicherheit, die schon allen gängigen Klischees entsprach. Neuankömmlinge im Kindergarten hielten die attraktiveren Kinder auf den ersten Blick für netter, klüger und selbständiger. Sie zeigten sich sogar überzeugt, dass die Hässlicheren – vor allem, wenn es sich um Jungen handelte – die Schlägertypen der Gruppe und weniger kontaktfreudig waren. Ist es da ein Wunder, dass ansehnliche Teenager leichter Kontakte schließen, mehr Freunde haben und eher Hilfe angeboten bekommen, wenn sie Unterstützung benötigen?
Wer auf Schönheit achtet – sind das die oberflächlicheren Charaktere? Von wegen! Fragen Sie sich zum Beispiel: Wer legt mehr Wert auf Schönheit bei Frauen – treue oder untreue Männer? Wären es die untreuen Männer, täten Frauen gut daran, in Sack und Asche zu gehen, um diese Typen abzuschrecken. Doch Frauen machen sich stundenlang zurecht, bevor sie ausgehen. Mit gutem Grund. Schönheit zieht treue Männer an. Biologen fanden die Erklärung im Tierreich. Polygame Männchen geben ihre Gene weiter, indem sie jedes Weibchen anbalzen, dass ihnen über den Weg läuft. Treue Männchen sind wählerischer. Sie legen bei der Auserwählten Wert auf beste Gene. Ein Fehler wäre das Ende seiner Genlinie. Untreue Männchen verlassen sich dagegen auf den statistischen Effekt. Unter den vielen Weibchen, die er beglückte, wird schon die eine oder andere Erfolgreiche dabei gewesen sein.
Ein Blick in die Memoiren Casanovas zeigt: Der Frauenheld zählte deswegen so viele Eroberungen, weil er nicht nur Schönheiten, sondern auch derbe Dienstmägde und sogar die verlebte 70jährige Herzogin d’Urfé ins Bett zog. Treue Männer schauen viel genauer hin, bevor sie sich binden. Und Frauen geben viel Geld für ihre Schönheit aus, weil sie ihre Reize einsetzen, um solch ein wertvolles Männerexemplar für sich zu gewinnen.
Mehr Informationen über Schönheit, Sex-Appeal und andere äußere Reize in:
Frank Naumann: Schöne Menschen haben mehr vom Leben. Die geheime Macht der Attraktivität. S. Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 2006, € 8,95.
Veröffentlicht im August 2006 © by www.berlinx.de
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