Unser Leben auf Stühlen

In welcher Position verbringen Sie die meisten Stunden Ihres wachen Lebens? Die ehrliche Antwort der meisten dürfte lauten: „im Sitzen“. Warum eigentlich?

Der Mensch beginnt und endet sein Leben im Liegen. Dazwischen sind wir für ein Dasein im Gehen und Laufen gemacht. Tatsächlich verbringen wir die meisten wachen Stunden jedoch im Sitzen. Mit ernsten Folgen, nicht nur für unsere Gesundheit.

Bis in das zwanzigste Jahrhundert arbeiteten die meisten Menschen in Industrie und Landwirtschaft. Sie standen oder bewegten sich aufrecht. Bis vor hundert Jahren der Siegeszug der Angestellten begann. Die Zahl der Arbeiter und Bauern sank. Ihre Kinder bevorzugten ein Berufsleben hinter Schreibtischen. 1958 prägte der Amerikaner Herbert Collins das Schlagwort von der „sitzenden Gesellschaft“: „Sitzen ist die symbolische Haltung des Zeitalters von Wissenschaft und Technik“ (Herbert Collins: The Sedentary Society, in: Eric Larrabee/Rolf Meyersohn: Mass Leisure, Glencoe, Illinois, 1958)

Das Bedürfnis nach Bewegung in aufrechter Haltung gehört jedoch zu unserer natürlichen Ausstattung. Da wir es im Job kaum noch tun, sind Gehen und Laufen zum Freizeitsport geworden. Der Bauer von früher würde den Kopf schütteln. Für ihn war Sitzen ein seltenes Privileg seiner karg bemessenen Freizeit. Abends ließ er sich erschöpft auf die Bank vor seinem Haus fallen oder hockte sich ins Wirtshaus.

Körperliche Anstrengung durch entspanntes Sitzen zu ersetzen, war ein Zeichen von Wohlstand. Sitzende Angestellte mit weißen Hemdskragen fühlten sich den Proletariern, die den ganzen Tag stehen und schwitzen mussten, weit überlegen. Die „Sitzung“ hielt Einzug in den Berufsalltag – im Büro und auf dem stillen Örtchen.

Der Mensch nennt sich Homo sapiens, der weise Mensch. Ob diese Bezeichnung angesichts der Ergebnisse von PISA- und anderen Studien berechtigt ist, ist schon oft gefragt worden. Auf jeden Fall aber sind wir Homo sedens, also der sitzende Mensch. Wir sitzen nicht nur beim Arbeiten, sondern auch in der Freizeit beim Essen, Fernsehen oder vor dem Computer.

Und wenn wir uns von A nach B bewegen? Selbst im Auto, Flugzeug, Bus oder der Bahn sitzen wir! Wir bewegen uns, ohne uns zu bewegen. Dass wir dafür biologisch nicht gemacht sind, merkt jeder, dem im Auto oder auf einem Schiff schon einmal schlecht geworden ist. Der Körper ist in Ruhe, aber das Auge registriert Bewegung.

Radfahrer benutzen wenigstens ihre Beinmuskeln – im Sitzen.

Die Sitzhaltung ist mit schuld am Siegeszug von Herzinfarkt, Schlaganfall, Bluthochdruck, Übergewicht und Diabetes. Achtzig Prozent bekommen im Laufe ihres sitzenden Lebens Probleme mit dem Rücken. Die dauernde Hockhaltung lässt die Haltemuskulatur erschlaffen. Experten raten, unvermeidliches Sitzen ständig zu unterbrechen:

  • Öfter mal die Sitzhaltung wechseln.
  • So oft wie möglich aufstehen und herumgehen (z.B. beim Telefonieren).
  • Bewegungspausen in den Alltag einbauen (Treppen benutzen, möglichst viel zu Fuß erledigen).

Das Sitzen hat seine eigene Körpersprache entwickelt. Dabei unterscheiden wir zwei Bereiche:

Sitzhaltung: Oberkörper vorbeugen signalisiert Interesse und Wachsamkeit. Sich zurücklehnen zeigt Lässigkeit und entspanntes Wohlgefühl. Frauen schlagen häufig die Beine übereinander, was Reserviertheit und Selbstwachsamkeit signalisiert. Männer sitzen oft breitbeinig da, manchmal ein Unterschenkel quer über das andere Knie gelegt. Diese Haltung strahlt Selbstbewusstsein, territoriale Ansprüche bis hin zu latenter Aggressivität aus.

Sitzposition: Sitzen zwei Bekannte nebeneinander, zeigt das freundschaftliche Nähe an. In anonymen Kontexten (Veranstaltungen) formt diese Anordnung der Stühle ein Publikum, das in einer gemeinschaftlichen Stimmung auf Vortragende und Künstler reagiert. Freunde sitzen in Restaurants häufig über Eck. Einander gegenüber sitzen hat formellen Charakter. So sitzt man bei Verkaufsgesprächen und in Verhandlungen. Delegationen sitzen einander meist an langen Tischen gegenüber.

Unser Buchtipp:
Günter Vogel: Einfach nur sitzen? Plaudereien über menschliche Körperhaltungen. Shaker Media 2013, € 12,90

veröffentlicht im September 2013 © by www.berlinx.de

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