Frauen, heißt es, sind sensibler als Männer und können deswegen Lügner besser entlarven. Doch neue Forschungsergebnisse lassen Zweifel an dieser plausiblen Theorie aufkommen. Egonet berichtet.

Der amerikanische Forscher Paul Ekman reiste 1967 nach Papua- Neuguinea zum Volk der Fore, die noch nie einen Weißen und noch nie eine Fotografie gesehen hatten. Dennoch identifizierten die Eingeborenen Gesichtsausdrücke von Amerikanern zweifelsfrei. Sie erkannten, ob der Weiße auf Ekmans Fotos sich freute, Angst hatte oder traurig war. Seitdem wissen wir, dass die menschliche Mimik angeboren und für alle Kulturen der Welt dieselbe ist. Selbst blindtaub geborene Kinder zeigen Furcht oder Lächeln auf ihren Gesichtern, obwohl sie nie einen Erwachsenen gesehen hatten, von dem sie diese Gesichtsausdrücke hätten lernen können.

Wenn wir uns freuen, lächeln wir, wenn wir uns ängstigen, schauen wir starr mit gehobenen Augenlidern und –brauen. Da die Mimik ein Signal für Gefühle ist, sollte wir sofort erkennen können, wenn die Gefühle nicht echt, sondern nur vorgetäuscht sind. Und in der Tat:

  • Bei einem falschen Lächeln heben sich nur die Lippen, aber nicht die Augenwinkel.
  • Bei vorgetäuschter Traurigkeit sinken zwar die Mundwinkel, aber es hebt sich die Innenseite der Augenbrauen nicht nach oben.
  • Bei künstlichem Zorn ziehen Sie zwar Lippen und Augenbrauen zusammen, aber nur bei echter Wut wird das Lippenrot schmaler.

Diese und andere Kennzeichen echter Gefühle im Gesicht beschreibt Paul Ekman in seinem neuen, leicht verständlich geschriebenen Buch „Gefühle lesen“. Er zählt all die subtilen Details auf, die wahre von vorgetäuschten Gefühlen unterscheiden. Lügner erkennt man an folgenden Signalen:

  • Leises Kopfschütteln, obwohl der Sprecher mit Worten zustimmt
  • Eine Mimik, die länger als 4 Sekunden gehalten wird
  • Eine Mimik, die sich asymmetrisch aufbaut, also der linke Mundwinkel fängt kurz vor dem rechten an zu lächeln (bei Linkshändern umgekehrt)
  • Eine Mimik, die sich mit Verzögerung aufbaut – nur echte Gefühle erscheinen schlagartig im Gesicht
  • Widersprüche in der Körpersprache, zum Beispiel lächelnde Zustimmung und gleichzeitig nervöse Finger- oder Fußbewegungen
  • Mikroausdrücke – für etwa eine Fünftelsekunde blitzen Elemente einer Mimik auf, die zum Gesagten im Widerspruch steht, zum Beispiel wenn während einer Beileidsbekundung ein kurzes Grinsen über die Mundwinkel huscht
  • Vermeidungssignale wie Blickabwendung oder –unruhe

Doch können wir diese flüchtigen Signale auch erkennen? Wie aufmerksam sind wir, wenn es darum geht, Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden? Dafür organisierten die Forscher folgendes Experiment: Sie baten Studenten vor der Kamera ihre Überzeugung zu einem emotionsbeladenen Thema wie Todesstrafe oder Abtreibung darzulegen. Die einen erhielten die Anweisung, ihre wahre Meinung zu sagen. Die andern sollten genau das Gegenteil von dem erzählen, was sie wirklich glaubten. Diese Videobänder spielten die Forscher dann Experten vor, die von Berufs wegen einen scharfen Blick für Übeltäter benötigen, also Polizisten, Zöllner, Richter, Psychologen, Sozialarbeiter, Lehrer oder Ärzte. Das Ergebnis war ernüchternd. Über 12 000 professionelle Menschenkenner ? haben die Aufnahmen bisher gesehen. Die normale Trefferquote lag bei 51 Prozent. Das heißt, sie hätten auch einfach raten können.

Das Erstaunlichste aber war: Frauen schnitten in diesem Test nicht besser ab als Männer. Frauen gelten zwar als die besseren Lügendetektoren, weil sie eine Antenne für Gefühle und Körpersprache haben. Das liegt aber zum Teil an den Männern. Die schwindeln 20 Prozent mehr und geben sich weniger Mühe, ihre Übertreibungen zu tarnen. Deshalb werden sie öfter ertappt. Ein untreuer Mann verrät sich eher als eine untreue Frau.

Vor den Videobändern der Forscher sind jedoch beide Geschlechter in gleichem Maße auf das Raten angewiesen. Frauen schauen zwar genauer hin und bemerken mehr Details. Sie sind aber auch eher bereit, sich von Worte täuschen zu lassen. Als das sprachlich begabtere Geschlecht sind sie nicht nur empfänglicher für Körpersignale, sondern auch für gut formulierte Sätze über Gefühle. Wenn der Mann sagt „Ich liebe dich“, will sie ihm gern glauben. Sie registriert zwar den abgewendeten Blick und das nervöse Zucken seiner Finger und Mundwinkel, möchte aber in diesem seligen Augenblick nicht weiter darüber nachdenken.

Die besten Menschenkenner entstammten einer bestimmten Gruppe von Kranken – Aphasiepatienten. Sie hatten durch Unfall oder Schlaganfall Teile ihres Sprachzentrums in der linken Hirnhälfte eingebüßt. Nancy Etcoff, Psychologin am Massachusetts General Hospital, sagte: „Seit den zwanziger Jahren gibt es Anekdoten von Aphasiepatienten, die Lügner sofort enttarnten. Aber das Phänomen ist nie wiss?enschaftlich untersucht worden.“ Ihre Patienten entdeckten Schwindler mit einer Genauigkeit von immerhin 73 Prozent. Das sind deutlich mehr als die 51 Prozent der Durchschnittsmänner und -frauen. Wem das Sprachvermögen abhanden kam, unterliegt nicht der Verführung durch Worte. Er urteilt nur aufgrund von Mimik und Gesten.

Der Psychologe John Frazer analysierte Alltagsgespräche und fand heraus, dass wir rund 200 Mal am Tag lügen. Ertappt werden wir nur selten. Wie kommt es, dass wir besser lügen können als Lügner durchschauen? Beobachten wir die frischgebackene Ehefrau Sonja nach dem Aufwachen.

„Guten Morgen, Schatz, gut geschlafen?“

„Prima“, antwortet Sonja. „Und du?

Zack – zweimal gelogen. Erstens will sie ihm nicht vorwerfen, dass er sie mehrmals in der Nacht mit Rippenstößen weckte. Schließlich kann er nichts für seinen unruhigen Schlaf. Und zweitens ist ihr Interesse an seiner Nachtruhe vorgetäuscht. Sie hofft, er verkneift sich die Antwort. Sie weiß ja, wie herrlich ausgeruht er jeden Morgen erwacht. Wenn sie nur einmal so durchschlafen könnte!

„Ist der Kaffee stark genug?“ fragt ihr Mann weiter. „Der Erdbeerjoghurt ist alle, ich hab uns eine Schale Müsli gemacht, okay?“

Sie antwortet zweimal mit Ja. Zack – wieder zweimal gelogen. Aber was soll sie sich beschweren, es ist ja lieb, dass er das Frühstück macht. Obwohl – da sie nachts wegen ihm mehrmals hochschreckte, ist das wohl das Mindeste an Wieder­gutmachung, was sie verlangen kann.

Stellen wir uns nun vor, Sonja würde von nun an kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Der Ehemann fragt noch einmal am Morgen: „Hast du gut geschlafen?“

„Nein“ entgegnet sie. „Du hast mir mehrfach den Ellenbogen in die Rippen geboxt. Du weißt, wenn ich erst einmal wach bin, kann ich lange nicht wieder einschlafen.“

„Das tut mir leid“, antwortet er. „Ich dage?gen habe …“

„Du brauchst mir nicht jeden Morgen vorzuschwärmen, wie toll du schläfst!“ schneidet sie ihm das Wort ab.

„Wie du meinst“, sagt er beleidigt.

Die Fragen, ob der Kaffee stark genug ist und ob sie Müsli statt Joghurt nimmt, verkneift er sich. Aber halt – Sonja ist ja ehrlich. Sie sagt es ihm also trotzdem: „Wieso ist der Kaffee so dünn? Und wo ist eigentlich mein Lieblingsjoghurt?“ Seine Antwort: „Weißt du was? Wenn dir mein Frühstück nicht gut genug ist, machst du es dir ab morgen früh selber.“

Das Beispiel zeigt: Die Unfähigkeit, hinter unsere höflichen Masken zu schauen, dient dem Selbstschutz. Sie vermittelt die wohltuende Illusion, ungefähr genauso zu denken und zu fühlen wie unsere Nächsten. Beide Geschlechter profitieren davon, nicht allzu genau hinzuschauen. Dafür nehmen wir sogar das Risiko auf uns, einen Menschen zu heiraten, mit dem wir auf den ersten Blick ein Herz und eine Seele sind, zu dem sich aber nach längerem Zusammenleben tiefe Gräben auftun.

Unser Lesetipp:Buch bestellen

Paul Ekman: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Elsevier, München 2004. EUR 24,95.

Das Buch liefert eine hervorragende Anleitung zum Erkennen von echten und falschen Gefühlen in Gesichtern. Mit Übungen und einem Test.

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Juni 2004 © by www.berlinx.de

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