Was macht mich einzig­artig?

Warum gleicht kein Mensch dem anderen? Wes­halb besitzt selbst der durch­schnitt­lichste Spießer eine unver­wechsel­bare Persön­lichkeit? Warum unter­scheiden sich selbst sia­mesische Zwillinge in ihren Charak­teren?

Ein­eiige Zwil­linge sind ein faszi­nieren­des Expe­riment der Natur. Sie sind gene­tisch iden­tisch, natür­liche Klone. Selbst wenn sie getrennt auf­gewachsen sind, finden wir bei ihnen erstaun­liche Über­einstim­mungen. Oft haben sie den gleichen Beruf, bewohnen ähnliche Häuser oder fallen durch dieselben Macken auf.

Doch was viel verblüffender ist: Obwohl sie dieselben Gene tragen, unterscheiden sich ihre Persönlichkeiten zu etwa 50 Prozent! Woher kommt ihre Verschiedenheit? Diese Frage bewegte die amerikanische Forscherin Judith Rich Harris in ihrem neuesten Buch zu einer faszinierenden Reise durch die Welt der menschlichen Individualität.

Meist werden die Eltern für die Unterschiede verantwortlich gemacht. Vor allem in den ersten Lebensjahren. Sichere Bindung, wohlwollende Fürsorge, Lob, Ermutigung und anregende Spielangebote von Mutter und Vater garantieren die Entwicklung zu einer starken, selbstsicheren Persönlichkeit. Wirklich? Judith Harris hat die wissenschaftlichen Studien gesichtet, die diesen Zusammenhang belegen sollen, und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis.

Gute Erziehung entscheidet zu weniger als 10 Prozent, wie sich das Kind entwickelt. Ähneln Kinder ihren Eltern, spielt das genetische Erbe eine wichtigere Rolle (45 Prozent). Doch wie oft geben sich Eltern alle Mühe und ziehen doch einen Rabauken groß! Ebenso häufig ist der umgekehrte Fall: Trotz asozialer Umgebung wird aus dem Kind ein vernünftiger, erfolgreicher Erwachsener. Judith Harris gibt Entwarnung für alle geplagten Eltern, denen ihre Kinder sorgenvolle Nächte bereiten. Sie haben nichts falsch gemacht. Ihr Einfluss ist viel geringer als Politiker und Kinderpsychologen glauben.

Doch wer macht uns dann zu dem, was wir sind? Allein die Gene? Keineswegs. Viel stärker als die Eltern beeinflussen Gleichaltrige und das Leben außer Haus die Charakterbildung. Das zeigt sich deutlich bei Migrantenkindern. Wenn sie im Alter von unter neun Jahren nach Deutschland kommen und dort mindestens vier Jahre bleiben, nehmen sie unsere Sprache und Sitten an. Auch wenn die Eltern kein Wort deutsch lernen und nur mit ihresgleichen reden. (Ausnahme: Wenn eine Ausländergruppe ein Wohngebiet erobert und in einer Art Ghetto unter sich bleibt.)

Kinder bereiten sich auf ein Leben in der Gesellschaft vor. Es ist also sinnvoll, dass sie nicht bei den Eltern, sondern draußen lernen, wie man sich unter seinen Mitmenschen bewegt. In den Gruppen Gleichaltriger erfahren wir, ob wir stärker oder schwächer, schöner oder hässlicher als die anderen Kinder sind. Ob sie uns nett, geschickt, begabt, witzig oder überzeugend finden. Aus diesen Rückmeldungen formen wir unser Selbstbild. Wir versuchen, mit unseren Stärken zu glänzen und Schwächen zu kaschieren, um unter unseresgleichen Anerkennung zu finden.

Drei Faktoren bilden nach Harris unseren Charakter:

  • mit wem wir uns befreunden und mit wem nicht (Beziehungen)
  • wie wir uns an welche Gruppen anpassen (Sozialisation)
  • welchen Platz wir in den Gruppen einnehmen (Status).

Es lassen sich eine Reihe praktischer Tipps ableiten:

  • Eltern sollten sich weniger Gedanken um ihren Erziehungsstil machen, sondern darauf achten, in welche Gegend sie mit ihren Kindern ziehen.
  • Gute Kindertagesstätten und Schulen sind wichtig, vor allem, welcher Umgang dort herrscht.
  • Es bringt nichts, für Ihre heutigen Schwierigkeiten Ihre Eltern verantwortlich zu machen. Lösen Sie Ihre Probleme im Hier und Jetzt, indem Sie um die Unterstützung von starken, charakterlich gefestigten Personen bitten.
  • Charakter ist kein unabänderliches Schicksal. Auch als Erwachsener können Sie sich verändern. Suchen Sie den Kontakt zu Menschen, die Sie ermutigen.

Individualität ist kein herausgehobenes Qualitätsmerkmal erfolgreicher Personen. Die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen schrieb: „Was ich aber nicht verstehe, ist die Vorstellung, man wäre aufgrund seiner Arbeit, seines Glaubens oder seiner Herkunft anders als andere. Jeder ist anders als andere.“

Unser Lesetipp:
Judith Rich Harris:: Jeder ist anders. Das Rätsel der Individualität. Deutsche Verlagsanstalt, München 2008, € 24,95.

Veröffentlicht im Mai 2008 © by www.berlinx.de

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