Können wir wissen, was das nächste Jahrtausend bringt?
„Nichts veraltet so schnell wie die Zukunft“ schrieben Zukunftsforscher schon vor dreißig Jahren über den Realitätsgehalt ihrer eigenen Voraussagen. Unbeschadet dieser Einsicht gibt es zur Zeit einen wahren Boom an Prognosen: von vorsichtigen Vorhersagen künftiger Wirtschaftsentwicklung bis zu globalen selbsternannter Propheten.
Wer möchte nicht gern wissen, was morgen sein wird! Seit der Mensch sich mittels seiner Vernunft aus dem Tierreich löste, ist er als einziges Lebewesen in der Lage, sich Gedanken um seine Zukunft zu machen. Er kann Gefahren vorbeugen, muß sich aber auch mit dem Wissen um seinen Tod auseinandersetzen. Seine Geschichte ist auch eine Geschichte erfolgreicher Vorsorge für die Zukunft. Angefangen von den ägyptischen Priestern, die die Sternenkunde betrieben, um den Zeitpunkt der Nilüberschwemmungen und die Güte der kommenden Ernte vorherzusehen, hat der Mensch sich gegen Hunger, Krankheiten und andere Risiken mit kluger Vorbeugung zur Wehr gesetzt.
Die Geschichte ist aber auch eine Geschichte gescheiterter Vorhersagen. Auf das jüngste Gericht und die Apokalypse, von den Urchristen noch zu ihren Lebzeiten erwartet, lauern die Gläubigen noch heute. An die Prognosen des Kommunismus glaubte zeitweise ein Drittel der Erdbevölkerung und ist erst vor wenigen jahren endgültig gescheitert, obwohl die Wissenschaft schon vor längerer Zeit untersucht hat, wie es mit unserem Wissen um das Künftige steht.
Zukunft ist prinzipiell unvorhersagbar. Lediglich allgemeine Tendenzen lassen sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit prognostizieren, indem man gegenwärtige Entwicklungsrichtungen in die Zukunft verlängert und dabei die Tatsache, daß unerwartete Veränderungen hinzukommen werden, so gut wie möglich als Unsicherheitsfaktor mit berücksichtigt. Daß eine Prognose eintrifft, wird um so unwahrscheinlicher
- je mehr sie ein Einzelereignis betrifft,
- je weiter die Prognose in die Zukunft reicht,
- je mehr Faktoren auf das Eintreten der prognostizierten Ereignisse Einfluß nehmen.
Wie leicht es ist, einen Flop zu produzieren, wenn man gegen diese Einsicht verstößt, zeigen unter anderem folgende berühmte Vorhersage-Fiaskos (in Klammern das Jahr der Vorhersage):
- Im Jahre 2000 werden künstliche Monde die Erde bescheinen (1967)
- Etwa um 1985 werden Meteorologen in der Lage sein, das Wetter künstlich zu ändern (Anfang der 60er Jahre)
- Im Jahre 2000 werden Autos, Waschmaschinen usw. von nuklearen Motoren angetrieben (1947)
- Roboter ersetzen Soldaten ab 1990 (1967)
- Bis 2000 sind die weltweiten Seuchen wie Malaria ausgerottet (WHO-Prognose Anfang der 60er Jahre)
- Nach Amputationen werden dank medizinischem Fortschritt Arme und Beine wieder nachwachsen (1967).
Wenn ein Wahrsager dennoch Ereignisse vorhersagt und sich seiner Trefferquote rühmt, nutzt er zwei Tricks:
- er streicht Treffer groß heraus und verschweigt seine Mißerfolge. Dabei nutzt er das kurze Gedächtnis der Menschen, das einen Teil der Prognose bis zum Eintreffen des Ereignisses vergessen hat und die Tatsache, daß Treffer Staunen hervorrufen und sich deswegen stärker einprägen als Mißerfolge
- er formuliert Prognose so nebelhaft, daß unterschiedliche Ereignisse gleichermaßen als Erfüllung gelten können. Das trifft auf die meisten Voraussagen des Nostradamus, aber auch auf Horoskope oder Handlinienlesen zu. Eine Horoskopempfehlung „Vorsicht mit Geldausgaben in der nächsten Woche“ ist genauso treffsicher wie der gegenteilige Rat „Gönnen Sie sich mal was Schönes“.
In der Wissenschaft von der Zukunft, der Futurologie, gelten harte Kriterien, die solche Manipulationstricks ausschließen, zum Beispiel:
- Eine Prognose muß genau eine genügend kleine, überprüfbare Reichweite angeben. Eine Aussage wie „mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit wird es regnen“ mag zutreffen, ist aber nicht überprüfbar, denn sie heißt auch „mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit wird es nicht regnen“. Und egal, ob es regnet oder nicht – die Prognose ist auf jeden Fall erfüllt. Eine Prognose, die dieses Kriterium erfüllt, wäre hingegen „2050 werden auf der Erde 12 Milliarden Menschen leben, Abweichung +/- 10 Prozent“. Alle Zahlen zwischen 10,8 und 13,2 Milliarden Menschen im Jahre 2050 würden die Prognose erfüllen.
- Alternativen sollten den Charakter von Wenn-dann-Aussagen haben. Also: Treten die Bedingungen A und B ein, dann geschieht X, treten C und D ein, dann geschieht Y. Solche Prognosen sind in aller Regel zuverlässiger als absolute Prognosen. Wünschenswert ist, daß für die einzelnen Alternativen (X,Y) Wahrscheinlichkeiten angegeben werden. Ein Beispiel: Kurzfristige Wettervorhersagen (Wetterbericht im Fernsehen) sind meist absolute Prognosen. Man sagt uns, wie das Wetter wird – ohne ausdrücklich hinzuzufügen, daß die Trefferquote bei etwa 80 Prozent liegt. Das heißt, rund jeder fünfte Wetterbericht geht daneben oder der tägliche Wetterbericht stimmt durchschnittlich zu vier Fünfteln. Langfristige Vorhersagen – etwa ob wir einen warmen Sommer bekommen – nennen Alternativen. Zum Beispiel: Mit 60 Prozent Wahrscheinlichkeit bekommen wir einen Jahrhundertsommer, mit 25 Prozent Wahrscheinlichkeit wird er durchschnittlich und mit 15 Prozent verregnet.
Es gibt eine Reihe weiterer Kriterien, deren Darstellung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Jedenfalls besitzt die Futurologie nach einigen Jahrzehnten Forschungspraxis und einigen berühmten, teuer subventionierten Studien genügend Know-how, um den Schritt vom bloßen Orakeln zur exakten Wissenschaft zu gehen. Dazu gehört auch, frühere Resultate zu prüfen und daraus für neue Studien zu lernen. 200 Milliarden werden allein in den USA Jahr für Jahr für das Erstellen von Prognosen ausgegeben.
Zu den berühmtesten Zukunftsvorhersagen gehörten die Berichte des Club of Rome, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, vor ökologischen und anderen Wachstumsrisiken zu warnen. Der erste erschien 1972 unter dem Titel „Die Grenzen des Wachstum“. Eine der teuerste Zukunftsprognose aller Zeiten war „Global 2000“, in den Jahren bis 1980 im Auftrag der US-Regierung erarbeitet. Wenn wir in der Rückschau Prognose und Wirklichkeit vergleichen, entdecken wir erstaunliche genaue Vorhersagen neben kapitalen Irrtümern. Während in „Global 2000“ die Bevölkerungsprognose für das Jahr 2000 mit etwas mehr als 6 Milliarden ziemlich genau getroffen wurde, entpuppte sich die Vorhersage der Nahrungsmittelpreise als mißlungen. Statt wie vorhergesagt um 35 bis 115 Prozent anzusteigen, fielen sie im Durchschnitt um annähernd 50 Prozent.
Sind deshalb Prognosen wertlos? Keineswegs. Gerade apokalyptische Szenarien warnen uns vor gefährlichen Tendenzen. Ihr Ziel ist es, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu veranlassen, so daß ihr Nichteintreffen ein praktischer Erfolg wäre. Leider ziehen falsche Prognosen auch falsche Gegenmaßnahmen nach sich und können Probleme noch verschärfen oder gar erst erzeugen. Beispiele sind die Windkraftwerke, die teuer subventioniert sind, die Landschaft nicht gerade verschönen und entgegen den Erwartungen die herkömmliche Stromerzeugung nicht entlasten. Klimaprognosen haben zwar mit einem Anstieg der Meeresspiegel gerechnet, nicht aber mit einer Erosion der Berghänge in den Gebirgen infolge der Erwärmung.
Die Zukunftsforschung unterliegt genauso dem Wechselspiel von Irrtümern, ihrer schrittweisen Korrektur und einem allmählichen Annähern an die Wahrheit wie andere Wissenschaften auch. Ihr Problem ist, daß ihr das Forschungsobjekt ständig davonläuft. Während ein Biologe davon ausgehen kann, daß die Gene, die er nach und nach kartographiert, auch in zehn Jahren wenigstens zu 99 Prozent noch die gleichen sind, ist für den Zukunftsforscher in zehn Jahren die Arbeit an der Prognose für das Jahr 2010 unwiderruflich zu Ende. Wenn er sich der Schwierigkeit entzieht, indem er seine Prognose weit in die fernere Zukunft verlegt, etwa ins Jahr 2100, wird er nie erfahren, ob er recht hatte. Und wir auch nicht. Es wird also dabei bleiben, daß Prognosen mangelhaft sind, das wir auf sie nicht verzichten können, und daß auch in Zukunft „nichts so schnell veraltet wie die Zukunft“.
Januar 2000 © by www.berlinx.de
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