Traditionsbewusst oder ewig gestrig?
Wer hätte nicht gern mal in einem früheren Jahrhundert gelebt! Aber war die „gute alte Zeit“ wirklich besser als die Gegenwart?
Retro ist in. Technisch veraltete Produkte wie die Sofortbildkamera kehren auf den Markt zurück. Vinyl-Schallplatten sind heute teurer als CDs und werden dennoch gekauft. Spielfilme, die eine gute alte Zeit beschwören, erreichen Spitzenquoten. Warum verklären wir die Vergangenheit und fürchten die Zukunft?
„Früher war alles besser“ war schon der Lieblingssatz von Philipps Großeltern. Deren Kinder – Philipps Eltern – sagten lieber „Früher war nicht alles schlecht“. Sie waren in der DDR ausgewachsen und verloren nach 1990 ihre Jobs. Philipp ist heute Mitte zwanzig und zieht von Praktikum zu Praktikum. Manchmal ertappt er sich, wie er selber den Lieblingssatz seiner Großeltern vor sich hinflüstert. Lebten seine Vorfahren in einer besseren Zeit?
Philipp weiß natürlich, dass in der DDR Mangelwirtschaft, Reiseverbote und Bespitzelung den Alltag bestimmten. Darüber hätte ihn der sichere Arbeitsplatz nicht hinweggetröstet. Freilich war der Westen vor fünfzig Jahren auch kein Paradies. Das weiß er von Onkel und Tante aus Köln. Reisewünsche scheiterten am Geld, und die Familie bekam die Krise im Bergbau hart zu spüren.
Schauen wir uns drei weitere Sätze an, die mit „Früher …“ beginnen:
„Früher gab es weniger Gewalt.“ In den letzten fünfzehn Jahren ist die Gewaltkriminalität um rund ein Drittel zurückgegangen. Was gewalttätiger geworden ist, sind die Filme und Reportagen.
„Früher lebten wir gesünder.“ Übergewicht und Alkoholkonsum steigen, aber die Zahl der Raucher sinkt und die Lebenserwartung steigt jedes Jahr um drei Monate. Mehr Demenz und mehr Krebsfälle gibt es nur deswegen, weil immer mehr Menschen ein höheres Alter erreichen.
„Früher gab es weniger Umweltzerstörung.“ Bis ins 19. Jahrhundert waren Großstädte stinkende Kloaken. Smogalarm war in den 1970-er Jahren normal. Rhein und Elbe waren zum Baden ungeeignet. Dafür waren die Meere sauberer und der Regenwald noch weitgehend intakt.
Insgesamt ist die Bilanz gemischt. Steigendem Wohlstand stehen steigende Risiken gegenüber. Warum aber sind nostalgische Gefühle so verbreitet? Warum glauben viele Menschen tatsächlich, dass es uns früher insgesamt besser ging?
Die Vergangenheit ist bekannt, die Zukunft ist ungewiss. Was einst auch Schreckliches passiert war – zwei Weltkriege, Hungerjahre, Krisen – es kann uns nicht mehr schaden. Wir lesen darüber in Geschichtsbüchern mit wohligem Grusel. Vor der Vergangenheit fühlen wir sicher. Dagegen ist alles Zukünftige unsicher. Da könnten Gefahren lauern. Wir neigen deshalb dazu, die sichere Vergangenheit positiver zu sehen.
Der Mensch ist nur begrenzt veränderungsfähig. Geschieht zuviel Neues auf einmal, verlieren wir den Halt. Passiert gar nichts Neues, langweilen wir uns. Wir können uns nur dann auf Neues einlassen, wenn zugleich genug Vertrautes erhalten bleibt. Wir sind biologisch an ein Leben in der Steinzeit angepasst – an ein Zeitalter, in dem sich über Jahrtausende nichts veränderte. Die Steinzeit war wie ein Bummelzug, die Gegenwart ist ein Hochgeschwindigkeitszug. Tempo erzeugt Stress. Neuerungen abzuwehren und sich im Bewährten einzuigeln, ist daher ein seelischer Selbstschutz.
Medien schüren Ängste. Wer sich in der Urzeit nicht vor Gefahren in Acht nahm, ging an seinem Leichtsinn zugrunde. Er wurde Opfer von Säbelzahntigern, Unwettern oder Krankheiten. Nur wer sich genügend ängstigte, um Gefahren aus dem Weg zu gehen, konnte Kinder großziehen und gehört deshalb zu unseren Vorfahren. unsere Aufmerksamkeit erwacht daher, sobald wir ein Risiko wahrnehmen. Die Medien wecken unsere Aufmerksamkeit – für hohe Auflagen und Einschaltquoten. Da wir unsere Eindrücke über die Welt fast nur noch aus den Medien beziehen, ist es kein Wunder, wenn uns diese Welt voller Risiken erscheint.
veröffentlicht im Mai 2014 © by www.berlinx.de
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