Freiheit ist das große Ideal westlicher Gesellschaften. Sie eröffnet uns Chancen der Selbstverwirklichung. Aber sie verweigert uns auch verbindliche Orientierungen. Wir sind, wie der Existentialist Sartre sagte, „zur Freiheit verurteilt“.
Jean-Paul Sartre (1905-1980) vertrat eine extreme Auffassung. Da der Mensch immer die Wahl habe zwischen Anpassung und Verweigerung – auch angesichts von Gefängnis und Todesgefahr – sei er prinzipiell frei. Diese Freiheit kann auch ein Fluch sein. Denn frei sein heißt verantwortlich sein. Sartres Philosophie der absoluten Freiheit entstand in der Erfahrung der Résistance, im Widerstand gegen die Besetzung Frankreichs durch Hitlers Truppen. Jeder musste eine Wahl treffen zwischen Kollaboration, sich raushalten oder Widerstand.
Aufgrund neuer Ergebnisse der Hirnforschung dominiert heute die gegenteilige Ansicht. Freiheit sei nur eine Illusion. Das Gehirn entscheide autonom, ohne das Bewusstsein zu fragen, und zwar automatisch aufgrund eintreffender Umweltdaten. Grundlage dafür ist ein Experiment von Benjamin Libet. Er stellte fest, dass das Gehirn sich schon entschieden hatte, bevor die Versuchsperson wusste, wie sie sich entscheiden würde. Dieses Ergebnis hat kürzlich John-Dylan Haynes vom Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience bestätigt. Seine Versuchspersonen brauchten sogar sieben Sekunden länger als ihr Gehirn, um zu wissen, mit welcher Hand sie den Knopf einer Versuchsapparatur drücken würden.
Hat damit die Neurologie bewiesen, dass es keine Freiheit gibt? Vorsicht! Dieser Schluss ergibt sich nur, wenn Sie sich das bewusste Ich und sein Gehirn als zwei verschiedene Personen vorstellen: Erst entscheidet das Gehirn, und dann informiert es das Ich. Wer also glaubt, dass unser Ich eine vom Gehirn unabhängige Seele sei, muss sich nach diesen experimentellen Daten unfrei fühlen.
Aber gerade die Neurologie hat auch gezeigt, dass es kein extra Ich gibt, das unabhängig vom Gehirn ein Eigenleben führt. Im Gegenteil, das Gehirn ist das Ich. Das Ich entsteht durch das Zusammenspiel der verschiedenen Gehirnzentren und ihrem Datenaustausch mit dem übrigen Körper und seiner Umgebung. Das Ich ist die subjektive, geistige Wahrnehmung dessen, was objektiv im Gehirn geschieht. Zwischen dem Entschluss und seiner bewussten Reflektion vergeht wohl eine kurze Zeitspanne, in der das Gehirn seinen Entschluss verarbeitet. Aber beide sind eine Leistung desselben Ich-Gehirns.
Die moderne Auffassung, Freiheit sei nur eine Illusion, ist gar nicht so neu. Philosophen der Antike, aber auch der Aufklärung (17. Jahrhundert) haben sie immer wieder vertreten, zum Beispiel La Mettrie oder Spinoza. Ist es also nur eine Sache des Glaubens?
Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Wir sind teilweise frei und teilweise unfrei. Das entspricht auch der Erfahrung, die jeder – sicherlich auch Sie – mit seiner Freiheit macht. Wir müssen in unseren Entscheidungen auf vieles Rücksicht nehmen, sind darin also unfrei. Aber wir haben innerhalb dieses gegebenen Rahmens die Freiheit, uns so oder so zu entscheiden:
- Den ungeliebten Job behalten oder hinschmeißen und Arbeitslosigkeit riskieren.
- In der Routine-Ehe bleiben oder nach einem neuen Partner suchen.
- Ein neues Auto kaufen oder lieber das Geld sparen.
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Was Freiheit ist, hängt auch von den Zeitumständen und der Kultur ab. Das zeigt ein Blick in die Geschichte. In Zeiten der Unterdrückung haben Widerstandsbewegungen das Ideal der Freiheit immer sehr hoch gehalten. Heute, wo Freiheit oft in fehlende Orientierung ausartet, wünschen wir uns mehr Verbindlichkeit. Da finden Gedanken, Freiheit beruhe auf Einbildung, leichter Gehör.
In der Zeit der industriellen Revolution, als Technikoptimismus herrschte, hat man Freiheit mit Wissen verknüpft. Spinoza nannte Freiheit „Einsicht in die Notwendigkeit“, Marx und Engels verstanden unter Freiheit die Fähigkeit, „mit Sachkenntnis zu entscheiden“. Die anarchischen 68er folgten Janis Joplin, die sang: „Freiheit ist nur ein anderes Wort für nichts mehr zu verlieren haben.“ Das bürgerliche Denken stellte Freiheit in Gegensatz zur Sicherheit. Wie die heutige Politik, die Freiheiten einschränken will im Namen von mehr Sicherheit gegen eine diffuse Terrorbedrohung.
Der anfangs zitierte Sartre hat uns eine weitere wichtige Seite von Freiheit deutlich gemacht. Freiheit ist die Möglichkeit auszuwählen zwischen Optionen. Das ist ein typisches Kennzeichen des Jugendwahns und der Weigerung, erwachsen zu werden. Selbst Leute über 50 versuchen, sich viele Optionen offen zu halten. Wir wollen uns nicht binden – und wenn doch, versuchen wir, alternative Optionen in der Hinterhand zu behalten. Daher die Klagen über die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen.
Diese Entwicklung zeigt: Zuviel Freiheit kann auch ein Fluch sein. Wer nicht im Alter einsam und ohne Sinn leben will, muss lernen, Bindungen einzugehen, auf Optionen zu verzichten, sich für ein Lebensmodell zu entscheiden und andere für sich auszuschließen. Wer einen Sinn im Leben finden will, nutzt seine Freiheit, um einen Teil seiner Freiheit aufzugeben.
veröffentlicht im Oktober 2008 © by www.berlinx.de
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