Warum Sie immer die Gegenprobe machen sollten
Das Fernsehen liebt zwei Arten von Geschichten: Erfolge und Katastrophen. Beide sind unterhaltsam, aber voller Risiko, wenn wir sie als Lebenshilfe missverstehen.
Im antiken Griechenland lebte ein Mann namens Diagoras, der nicht an die Götter glaubte. Um ihn zu bekehren, zeigten ihm Gläubige Bilder von Schiffsbrüchigen, die in ihrer Not beteten und tatsächlich dem Tod entrannen: „Siehst du? Beten hat sie vor dem Ertrinken gerettet.“ Diagoras antwortete: „Wo habt ihr die Bilder von denen, die beteten und trotzdem ertranken?“
Diese kleine Geschichte wird dem römischen Senator Cicero zugeschrieben. Den Toten wäre es schwergefallen, ihre negativen Erfahrungen mit dem Beten den Lebenden mitzuteilen. Nur die Überlebenden konnten berichten. Für die heutigen Medien sind nicht nur die tot, die real gestorben sind. Auch wer seine Stimme nicht erhebt, damit ihn die Journalisten bemerken, ist für die Öffentlichkeit gestorben. Wen bemerken Journalisten? Menschen, die aus dem Durchschnitt herausfallen. Entweder durch skurrile Taten und äußeren Erfolge oder weil sie Opfer von Katastrophen werden.
Sind Sie gegen die Verzerrungen der Berichterstattung gefeit? Betrachten Sie einmal die beiden folgenden Sätze:
- Neunzig Prozent der an Lungenkrebs Erkrankten sind Raucher.
- Neunzig Prozent der Raucher erkranken an Lungenkrebs.
Der erste Satz ist richtig, der zweite falsch. Wenn Sie die beiden Sätze aber in eine Umfrage zur Abstimmung stellen, werden Sie feststellen, dass die Menschen dazu neigen, beide für gleichwertig zu halten. In Wahrheit gilt beim zweiten Satz jedoch die Umkehrung: Neunzig Prozent aller Raucher erkranken nie an Lungenkrebs.
Darauf würden Sie nicht hereinfallen? In vielen Fällen hat sich die Erfolgsillusion längst zu einem Alltagsphänomen gemausert:
Rosarote Brille. Vom kleinen Hausarzt bis zum millionenschweren Spitzenmanager berichten alle Macher über ihre Erfolge und schweigen über ihre Fehldiagnosen und Niederlagen.
Intoleranz gegen das Abwarten. Ein schneller Erfolg muss her und zwar sofort! Das Ergebnis ist: Forscher fälschen ihre Studien, um den Weg zum Ruhm abzukürzen. Negative Resultate werden verheimlicht. Junge Talente wollen mit einem einzigen Auftritt in einer Castingshow an die Spitze der Hitparaden gelangen. Wie einst die Beatles über Jahre durch Clubs ziehen, um Erfahrung und Routine zu erlangen, ist viel zu mühselig. Klappern gehört nicht länger zum Handwerk, sondern ersetzt das Handwerk.
Medienhype. Wir fürchten uns vor Flugzeugabstürzen, die äußerst selten sind, weil von ihnen voller Dramatik berichtet wird. Kaum jemand fürchtet sich vor tödlichen Autounfällen, die sich in Deutschland rund fünftausend Mal im Jahr ereignen. Die Zahl der lebenslang Querschnittsgelähmten ist da noch nicht einmal berücksichtigt. Wie hoch wir die Gefahr von Überfällen einschätzen, hängt davon ab, wie oft darüber berichtet wird. In demselben Maße, wie die Zahl der Krimis im Fernsehen zunimmt, glauben wir auch an eine Zunahme der realen Kriminalität.
Extreme als Maßstab für den Durchschnitt. Immer öfter schließen wir vom Spektakulären auf das Übliche. Sie nicht? Dann beantworten Sie folgende Frage: Was ist das gefährlichste Tier für uns Menschen? Die meisten tippen auf Haie und Tiger, denn sie töten gelegentlich Menschen. Wer sich genauer auskennt, nennt Flusspferde und Bienen (wegen der Allergiker gegen Bienengift). Doch mit Abstand am gefährlichsten ist die Anophelesmücke. Sie überträgt Malaria. Ihr fallen Millionen Menschen zum Opfer.
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veröffentlicht im Juni 2014 © by www.berlinx.de
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