Die Kunst, einen Skandalerfolg zu erzeugen

Thilos[fusion_builder_container hundred_percent=Die offiziellen Moral­hüter sind empört. Die große Mehr­heit der Be­völ­ker­ung sagt: „Der Mann hat Recht.“ Der Ver­kauf sei­nes Bu­ches „Deut­schland schafft sich ab“ über­trifft al­le Er­war­tun­gen. Was macht Thilo Sar­ra­zin auf ein­mal so po­pu­lär?

Wenn Intelligenz zum Teil erblich ist, unterliegt sie der natürlichen Selektion. Wenn sich die Intelligenten schneller vermehren würden, weil die Dummen lebensuntüchtig sind, nähme die Gesamtintelligenz der Bevölkerung zu. Durch den modernen Lebensstandard ist aber die natürliche Selektion weitgehend wirkungslos geworden. Die ungebildete Unterschicht bekommt viele Kinder, die gebildete Oberschicht wenige. Im Laufe weniger Generationen verdummt daher die Menschheit.

Diese Theorie stammt von – ? Francis Galton!  Er lebte in England von 1822 bis 1911. Der Erbbiologe und Statistiker zog seine Folgerung aus der Evolutionstheorie seines Vetters Charles Darwin. Empörung bei den Sozialisten, begeisterte Zustimmung bei Liberalen und Konservativen. Er gehörte damit zu den Begründern des Sozialdarwinismus, einer einflussreichen Philosophie vor über hundert Jahren. Galton versuchte auch, im Experiment die Dummheit der Masse zu beweisen. Er bat 1906 knapp 800 Personen – Experten und Laien – das Gewicht eines Ochsen zu schätzen. Er wertete die abgegebenen Tipps statistisch aus – und wunderte sich. Der Durchschnitt aller Schätzungen lag weniger als 1 Prozent neben dem tatsächlichen Ergebnis. Die Masse hatte sich mindestens ebenso klug erwiesen wie die besten Experten.

Auch das folgende 20. Jahrhundert hat Galton widerlegt. Die Menschen wurden nicht dümmer, sondern klüger. Bis zum Jahr 2000 wuchs der durchschnittliche Intelligenzquotient kontinuierlich an, und zwar pro Jahrzehnt um drei Punkte. Dieser, nach seinem Entdecker benannte „Flynn-Effekt“ führt dazu, dass die Intelligenztests alle paar Jahre überarbeitet werden müssen.

Der Grund ist die verbesserte Bildung. Immer größere Teile der Unterschichtkinder fanden Zugang zu höheren Schulen. Teils, weil die Industrie klügere Arbeitskräfte benötigte. Teils, weil Sozialisten Bildungsprivilegien abschafften.

Dieser kleine historische Rückblick zeigt: Die Provokation des Thilo Sarrazin ist nicht neu. Schon vor über hundert Jahren hat die gleiche Warnung vor einer Explosion der Dummheit die Gemüter erregt. Damals hieß die Alternative: Gebildetes Bürgertum gegen hoffnungslos degeneriertes Proletariat. Seit Galton wissen wir, wie man mit Ängsten Erfolge erzielt. Wir fassen die wichtigsten Zutaten für Sie zusammen.

Schüren Sie die Angst vor einer künftigen Katastrophe. Gegen konkrete Ängste kann der Mensch sich wappnen. Alarmanlagen und Schlösser schützen zum Beispiel vor Dieben. Aber was ist mit unklaren Ängsten vom Typ: „Es kann alles nur schlimmer werden“? Ungünstige Veränderungen gibt es immer. Malen Sie sich aus, was passiert, wenn diese Veränderung zur einzig vorherrschenden Tendenz wird. Das Absterben einzelner Arten wird zum Aussterben der gesamten lebenden Natur. Energieknappheit wird zum Versiegen aller Energie. Konflikte zwischen Kulturen wandeln sich zu einem Weltkrieg der Kulturen. Wichtig dabei: Ihre Prognose muss plausibel klingen, aber unbeweisbar sein. Unbeweisbar heißt: Sie ist auch unwiderlegbar.

Wählen Sie ein wertebesetztes Reizthema. Nicht jede Katastrophe erregt die Gemüter. Sie muss menschliche Werte, die uns allen wichtig sind, verletzen. Das Waldsterben der 1980-er Jahre erregte uns nicht wegen der toten Bäume in Gegenden, wo kaum ein Städter seinen Fuß hinsetzte. Sondern weil das Ideal der romantischen Natur bedroht schien. Deswegen sind auch Sexskandale so beliebt. Sie rühren an das moralische Empfinden. Kulturkonflikte rühren am Nationalstolz und an zahlreichen Alltagsgewohnheiten. Weniger geeignet sind reine Naturkatastrophen. Als 1755 ein Erdbeben ganz Lissabon zerstörte, gab es nur deshalb einen Skandal, weil nach diesem Ereignis Zweifel an der Güte Gottes laut wurden. Das brachte die Verteidiger der Religion auf die Palme.

Argumentieren Sie global statt differenziert. Wer genau hinschaut, sieht vor allem die Vielfältigkeit. Wer unter Arabern und Türken in Europa lebt, wird alle Tendenzen finden: Kinder, die die Kultur ihrer Eltern aufgeben. Kinder, die – obwohl hier geboren – „arabischer“ leben als ihre arabischen Eltern. Kinder, die zwischen beiden Kulturen leben. Aber aus der Ferne verschwimmt die Verschiedenheit zu einem globalen Eindruck, der meist aus den Medien stammt. Auch Thilo Sarrazin kennt „die“ Moslems hauptsächlich aus Meldungen und Statistiken. Er besitzt das gleiche Vorwissen aus zweiter Hand, das auch die meisten seiner begeisterten Leser haben. Er braucht nur die Schlussfolgerungen niederzuschreiben, die seine Leser insgeheim auch schon gezogen haben.

Wählen Sie eine Extremposition. Eine vermittelnde Sicht, die allen Seiten teilweise Recht gibt, ist langweilig. Aufmerksamkeit gewinnt nur, wer sich für eine Seite entscheidet. Entweder gegen die Einwanderer oder für sie. Denkbar wäre auch ein Buch gewesen, das für eine Islamisierung Deutschlands plädiert. Auch da wäre dem Autor Empörung sicher gewesen. Aber die Auflage hätte sicher nicht diese Höhe erreicht.

Reduzieren Sie das gesellschaftliche Netzwerk auf zwei Fronten. Es gibt militante Raucher, Kettenraucher, durchschnittliche Raucher, Gelegenheitsraucher, einfache Nichtraucher und militante Nichtraucher. Wenn es um den Nichtraucherschutz geht, vertritt die Mehrheit moderate Positionen. Aufmerksamkeit erregen nur die Militanten. Die militanten Raucher malen mit dem Rauchverbot den Untergang des Gaststättengewerbes an die Wand. Die militanten Nichtraucher wollen das Rauchen überall verbieten. Genauso sieht es bei Themen wie Alkohol, Frauenbewegung oder fremden Kulturen aus. Ein tolerantes Miteinander trotz Konflikten ist vernünftig, aber erregt niemanden. Wenn Sie gehört werden wollen, reduzieren Sie die Menschheit auf Freund und Feind. Erklären Sie sich zum Sprachrohr Ihrer Leser und Leute, die anders denken, zum Gegner.

Sprechen Sie unsere Ängste aus. Wir alle fürchten uns vor künftigen Unglücken. Niemand weiß, ob er nicht eines Tages Opfer eines Unfalls, einer Überschwemmung, eines Orkans oder eines Raubüberfalls wird. Besonderes Unbehagen verursachen Gefahren, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Da wir alle sterblich sind, droht uns zumindest eine finale Krankheit. Es ist daher einfach zu sagen: Lieber Leser, du fürchtest dich ebenso wie ich und tausend andere. Es ist ein Skandal, dass sich niemand um deine Ängste kümmert. Ich kann dir zwar auch nicht helfen, aber zumindest für dich Partei ergreifen. Ich kann öffentlich erklären, dass du dich zu Recht fürchtest. Und ich kann „die Verantwortlichen“ auffordern, endlich für Abhilfe zu sorgen.

Weisen Sie sich als Experte aus. Wenn Otto Normalo vor Überfremdung warnt, interessiert das niemanden. Ein Spinner, winkt die Fachwelt ab. Anders, wenn die Fachwelt selber warnt. Sie müssen kein Experte sein. Sie müssen nur so tun „als ob“. Das ist Thilo Sarrazin erstaunlich gut gelungen. Sarrazin ist studierter Ökonom. Er hat für die Bundesbahn, als Finanzsenator und als Banker gearbeitet. Alle drei Berufe gelten eigentlich als diskreditiert. Von Soziologie, Religion, Pädagogik, Völkerkunde und Zukunfts­forschung versteht Sarrazin nicht mehr als andere gebildete Laien. Aber das genügt. Um in Deutschland als Experte zu gelten, müssen Sie nur behaupten, einer zu sein und zahlreiche Studien zitieren. Günstig ist ein Doktortitel. Sarrazin hat einen – in Wirtschaftsgeschichte!

Bauen Sie sich ein Störenfried-Image auf. Kannten Sie schon vor einem halben Jahr den Namen Sarrazin? Wenn ja, woher? 2008 erklärte Sarrazin, ein Hartz-IV-Empfänger könne von weniger als 4 Euro pro Tag leben. Das brachte eine Debatte über das Existenzminimum und viele seltsame Rechenbeispiele zustande. Viele, die damals empört reagierten, klatschen ihm heute Beifall. Das ist Folge des Freund-Feind-Schemas. Solange der Provokateur im Namen der Mehrheit gegen eine Minderheit kämpft, kann er sich der Rückendeckung seiner Mehrheit sicher sein.

In jeder Extremposition steckt teilweise Wahrheit, teilweise Falsches. Das gilt auch für den Skandal selbst.

Er ist nützlich, um auf ein Problem aufmerksam zu machen. Leider erlischt die Aufmerksamkeit relativ schnell. Bevor endlich Veränderungen in Gang kommen, hat sich die öffentliche Meinung einem anderen Reizthema zugewandt. Denken wir nur an die Finanzkrise. Die Reform des Finanzsektors ist längst vergessen – auch dank des neuen Skandalthemas, das uns der Banker Sarrazin untergejubelt hat.

Er ist schädlich, weil er diplomatische Lösungen erschwert. Statt die Interessen aller Beteiligten zu berücksichtigen, ziehen die militanten Vertreter der Extreme in den Kampf gegeneinander. Das gibt dem nächsten Autor die Gelegenheit, aus den Opfern Material für einen neuen Skandal zu gewinnen.

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Veröffentlicht im September 2010 © by www.berlinx.de

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