Wie viel Schmutz ist gesund?
Kacheln und Böden blitzeblank, die Wäsche fleckenlos und strahlend weiß – das sind Bilder, die wir aus der Werbung kennen. Doch seit einigen Jahren warnen Mediziner. Zuviel Reinlichkeit erzeugt Allergien. Wie viel Schmutz braucht der Mensch?
Was ist Schmutz? Materie am falschen Ort. Doch diese witzige Definition scheint veraltet zu sein. Es mehren sich Hinweise, dass Schmutz so lebensnotwendig ist wie Luft zum Atmen. Er trainiert unser Immunsystem. Ein klarer Beleg kam aus der DDR. Dort waren Asthma, Heuschnupfen und andere Allergien weitaus seltener als im Westen. Nach der Wende holte der Osten jedoch auf. Mit der neuen Lebensweise wuchsen auch die Krankheitszahlen. Wieso?
Die Medizin verdankt ihren Siegeszug vor allem der Hygiene. Im 19. Jahrhundert starben die Patienten meist nicht an den Operationen, sondern an nachträglichen Infektionen. Dann aber wurden die Bakterien entdeckt. Hände waschen und Sterilisation ließ die Heilungsquote sprunghaft ansteigen. In der gleichen Zeit begann der erfolgreiche Feldzug gegen gefürchtete Seuchen wie Pocken, Tuberkulose oder Syphilis. Die neue Hygiene gilt als der Erfolgsfaktor für den starken Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung von unter 50 auf rund 80 Jahre.
Doch jetzt schlagen die Keime zurück. In den Kliniken breiten sich multiresistente Keime aus – Bakterien, die sich an alle gängigen Antibiotika angepasst haben. Aus Russland rücken neue, aggressive Stämme des Tuberkuloseerregers vor. Neue Krankheiten wie AIDS breiten sich aus. Das HIV-Virus zerstört das Immunsystem, Impfung oder Heilung sind bislang unmöglich.
Unser Immunsystem, das uns vor Keimen schützen soll, wird selbst zur Quelle von Krankheiten. Ihm gelingt es oft nicht mehr, zwischen gefährlichen Erregern und anderen Substanzen zu unterscheiden. Wenn es sich gegen harmlose Stoffe wehrt, entstehen Allergien. Wenn es gegen körpereigene statt gegen fremde Zellen kämpft, entwickeln sich Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Multiple Sklerose.
Doch was genau ist die Ursache? Darüber gibt es mehrere Theorien. Sind es vielleicht die modernen antibakteriellen Putzmittel, die es in der DDR nicht gab? Mit dieser These trat Stuart Levy von der Tufts Universität im Jahr 2000 an die Öffentlichkeit. Im ersten Lebensjahr braucht das Baby ein Training seines Immunsystems. Ist seine Umgebung zu sauber, lernen seine Helferzellen nicht, gefährliche von harmlosen Fremdkörpern zu unterscheiden.
Dann warnte eine Studie der Universität Freiburg vor den Reinigungsmitteln selbst. Sie beseitigen mehr ungefährliche Keime als resistente, die dann auf den Oberflächen übrig bleiben und dort die Plätze der verdrängten harmlosen Bakterien zusätzlich besiedeln. Außerdem stehen die antibakteriellen Zusätze im Verdacht, selbst Allergien auszulösen. Kurz, sie schaffen den oberflächlichen Anschein von Reinlichkeit, verstärken aber in Wahrheit das Krankheitsrisiko.
Ein weiterer Faktor ist die Impfungsrate. Im Osten waren Impfungen für Kinder Pflicht. Keuchhusten kam aus diesen Gründen kaum vor. Nach 1990 entfiel die Impfpflicht und die Krankheitszahlen stiegen auf Westniveau. Impfungen schützen aber nicht nur vor den Krankheiten, gegen die entwickelt wurden. Eine Infektion zieht häufig Folgeerkrankungen nach sich, die eine Impfung verhindert hätte. Jede Impfung ist zudem ein Zusatztraining für das Immunsystem. Entweder weil sie das Immunsystem anregt, Abwehrzellen zu bilden. Oder weil sie direkt Abwehrzellen in die Blutbahn spritzt. Es gibt zudem Hinweise, dass Impfungen gegen Pocken, Tuberkulose und Geldfieber sogar den Schutz vor einigen Krebsarten (wie dem schwarzen Hautkrebs) verbessern. Denn es gehört auch zu den Leistungen eines gesunden Immunsystems, Frühstadien von Krebszellen aufzuspüren und zu vernichten.
Bauernkinder leiden als Erwachsene seltener an Allergien. Der Kontakt mit Kühen und anderen Nutztieren macht hier den Unterschied aus. Doch noch ist unklar, welche Keime den Schutz gewährleisten. Denn es gibt solche und solche Bakterien. Einige sind gefährliche Seuchenauslöser, andere – zum Beispiel Darmbakterien – lebenswichtig. Autoimmunerkrankungen des Darms nehmen ebenfalls zu, zum Beispiel Morbus Crohn. Das ist ein unheilbarer Angriff des Immunsystems auf harmlose Darmbakterien, der zu Entzündungen und zahlreichen, unangenehmen Folgebeschwerden führt. In Asien, Afrika und Südamerika ist die Krankheit viel seltener, weil die Menschen dort häufiger mit Würmern infiziert sind. Mit ihrer Abwehr lernt das Immunsystem, Parasiten von nützlichen Darmbakterien zu unterscheiden.
Moderne Therapien zielen darauf ab, dem Immunsystem den Unterschied zwischen gefährlich und harmlos nachträglich anzutrainieren. Die wichtigsten Regeln für ein gesundes Immunsystem lauten:
- Nutzen Sie den Frühling. Setzen Sie sich Wind, Wetter und der Natur aus.
- Nicht nur beim Frühjahrsputz gilt: Sparsamer Einsatz von einfachen Reinigungsmitteln, ohne hochgezüchtete Chemiekeule. Antibakterielle Zusätze sind überflüssig.
- Sie wollen was tun für die Bikinifigur? Regelmäßiges Ausdauertraining aktiviert auch Ihre Immunabwehr.
- Geben Sie frischen Nahrungsmitteln den Vorzug. Sie bringen die Darmbakterien ins Gleichgewicht. Fertiggerichte enthalten oft Zusätze, die im Verdacht stehen, Allergien auszulösen.
- Antibiotika sind bei leichten Erkältungen und allen Virusinfektionen überflüssig oder wirkungslos. Sie geraten immer in Konflikt mit der körpereigenen Immunabwehr. Sind Antibiotika dennoch nötig: Unbedingt bis zum letzten Tag einnehmen! Auch wenn Sie keine Symptome mehr haben. Sonst werden die Erreger nicht vollständig abgetötet. Die übrig gebliebenen Bakterien können Resistenzen bilden. Bei ihrer nächsten Attacke wirkt das Medikament dann nicht mehr.
veröffentlicht im März 2009 © by www.berlinx.de
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