Wie viel Ego verträgt die Welt?
Bin ich das Maß aller Dinge? Oder ist mein Ich nur ein bedeutungsloses Staubkorn unter sieben Milliarden Anderen? In der Philosophie finden sich beide Ansichten.
Nachdem Aristoteles in seinem Buch „Physik“ die Welt der Körper erklärt hatte, schrieb er „nach der Physik“ (griechisch: Metaphysik) ein Buch über das Sein im allgemeinen. Seitdem versteht man unter Metaphysik eine Philosophie, die die Mechanik des Weltganzen erklärt – die Gesetze, nach denen Gott die Unendlichkeit eingerichtet hat. Die berühmtesten Metaphysiker nach Aristoteles waren Thomas von Aquin, Spinoza und Hegel.
Doch welche Rolle spielt darin der einzelne Mensch, der diese Philosophie studiert? Keine. Das Individuum ist im Vergleich zum Weltganzen ein Nichts. Deshalb hat es neben den großen Welterklärern auch Denker gegeben, denen die Sterne egal waren. Sie interessierten sich für das Glück des Einzelnen. Sie fragten nach dem guten Leben, nach der Endlichkeit des Individuums. Philosophen dieser Lebenskunst waren zum Beispiel Diogenes, Epikur, Montaigne und Kierkegaard.
Lebenskunst oder Metaphysik – welche Philosophie ist wahr? Die Antwort hängt vom Zeitgeist ab. Herrschte Aufbruchsstimmung, richteten die Denker ihr Augenmerk auf Gesellschaft und Kosmos. Als zum Beispiel um 600 v. Chr. die antiken Städte aufblühten, fragte die ersten Philosophen nach dem Urstoff, aus dem die Welt zusammengesetzt ist. Als Athen jedoch 200 Jahre später in seine erste Krise geriet, richteten Sokrates und die Sophisten erstmals ihr Augenmerk auf den Menschen. Da die Gesellschaft sein Glück nicht mehr garantierte – wie konnte der Einzelne sich aus Krise und Weltuntergangsstimmung ausklinken? Konnte er sein Glück im Alleingang finden?
Das gleiche Spiel wiederholte sich, als das antike Rom in die Krise geriet. Zahlreiche Lebenshilfe-Philosophien konkurrierten um die Gunst der Bürger. Unter ihnen trug das Christentum den Sieg davon. Augustinus hielt irdisches Glück für unmöglich und tröstete seine Anhänger mit der Aussicht auf jenseitige Erlösung.
Als im Mittelalter die Städte aufblühten, wurde aus der urchristlichen Erlösungslehre des Einzelnen wieder eine metaphysische Welterklärung – die Scholastik. In einer „Summa theologica“ fasste Thomas von Aquin im 12. Jahrhundert das kirchliche Weltwissen zusammen. Noch heute betrachtet die katholische Kirche seine Philosophie als die Grundlage ihrer theologischen Wissenschaft.
Das Mittelalter endete in Inquisition, Pestepidemien, hundert- und dreißigjährigem Krieg. Die Renaissance verstand sich in dieser Zeit als Wiedergeburt der Antike. Mit ihr kehrte das selbstbewusste Individuum zurück. Montaigne erfand den Essay als literarische Form, um über sich selbst nachzudenken. Descartes begann seine Philosophie mit „Ich denke, also bin ich.“ Nur weil ich zu zweifeln imstande bin, finden Gott und die Naturgesetze ihren Platz.
Mit dem Aufblühen der bürgerlichen Gesellschaft kehrten die Welterklärungen zurück. Der kategorische Imperativ Kants bringt es auf den Punkt. Das Tun des Einzelnen ist nur dann gut, wenn sein Verhalten auch für die gesamte Gesellschaft das bestmögliche wäre. Hegelbetrachtete das Individuum lediglich als Agenten des kosmischen Gesetzes. In Napoleon erblickte er den Weltgeist zu Pferde.
Als im 19.Jahrhundert wirtschaftliche Krisen das Vertrauen erschütterten, meldeten sich erneut Denker der Lebenskunst zurück. Schopenhauer brachte seinen Pessimismus in ein System. Kierkegaard erfand die Existenzphilosophie: Die prekäre Existenz des Einzelnen ist eine wichtigere Frage als die Weltmechanik – deren Verständnis hilft mir nicht im geringsten, mein Leben sinnvoll zu leben. Nietzsche feierte das starke Individuum, das sein Leben wie ein Kunstwerk gestaltet. Der Starke setzt sich über die Moral der Allgemeinheit hinweg, die ihm nur Fesseln anlegen will.
Schopenhauer ahnte schon die heutige Entwicklung vorweg. Die Philosophie hat sich gespalten. Es gibt einen professionellen, akademischen Teil, der an Universitäten gepflegt wird. Dort untersuchen Professoren Fragen der Logik, der Erkenntnistheorie und der Geschichte ihrer Disziplin. Daneben pflegen Amateure das Nachdenken über das richtige Leben.
Welche Richtung vorzuziehen ist, ist eine praktische Frage. Marx konnte im 19. Jahrhundert glauben, mit einer revolutionären Theorie den Arbeitern Glück und Wohlstand zu verschaffen. In der modernen Krise ist die Hoffnung unrealistisch, zu unseren Lebzeiten eine bessere Gesellschaft aufblühen zu sehen. Also fragen wir uns: Wie kann ich in unsicheren Zeiten ein sicheres Glück finden? Diese Frage beschäftigte auch schon Epikur 300 Jahre vor Christus. Auch zu seinen Lebzeiten war Athen pleite und von einer fremden Macht, die aus dem Norden kam, beherrscht. Epikur & Co. sind uns heutzutage näher als Hegel und andere Weltenerklärer.
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veröffentlicht im Juni 2012 © by www.berlinx.de
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