EGONET.de
Ausgabe 11/1999
Migräne
Gewitter im Kopf

Rasende Kopfschmerzen und Erbrechen – als ob gleich das Hirn explodieren wird! Sehnsucht nach Stille und Dunkelheit ... EGONet informiert über die Hintergründe eines Leidens, von dem mehr als acht Millionen Deutsche betroffen sind.
Die Liste der berühmten Migräniker ist lang: George Bernhard Shaw, Charles Darwin, Sigmund Freud ...
Der Schmerz betrifft in zwei von drei Fällen nur eine Hälfte des Kopfes, sitzt mit seinem Zentrum hinter einem Auge und kann bis zu drei Tage andauern. Geräusche und Licht stellen einen Reiz dar, der das Leiden ins Unerträglich steigert. Immer wieder Übelkeit und Erbrechen. Manche werden von der Attacke völlig außer Gefecht gesetzt. Andere erleben eine mildere Form, können noch arbeiten oder sich um die Familie kümmern. Äußerlich ist ihnen nichts anzusehen. Ärzte und Angehörige können sich nur auf die Schilderungen der Kranken verlassen. Deswegen wird das Leiden immer noch unterschätzt.
Nimmt man leichte Verlaufsformen dazu, leiden etwa ein Viertel aller Frauen und ein Achtel der Männer an Migräne. Bereits jedes zwölfte Kind hat Migräne.
Schon 1770 vermutete der italienische Arzt Dr. Tissot, daß es sich um ein Erbleiden handelt. Heute ist klar: Erbfaktoren schaffen eine Veranlagung für Migräne. Veränderungen in den biochemischen Abläufen im Gehirn fördern das Entstehen von Entzündungen an den Hirnhäuten, wodurch die Schmerzattacken ausgelöst werden. Eine besondere Rolle scheint ein erblicher Serotoninmangel (das ist ein Nervenbotenstoff) zu spielen. Ob Migräne tatsächlich in Erscheinung tritt, hängt von Faktoren der Lebensweise ab – allerdings sind die Abläufe trotz aufwendiger Forschung immer noch nicht klar.
So wird ein bestimmtes Charakterbild für die Neigung zur Migräne verantwortlich gemacht. Danach sind Migräniker oft sehr fleißig, gewissenhaft und ordnungsliebend. Sie zeigen Ehrgeiz und versuchen, jeden Fehler zu vermeiden. Dadurch überfordern sie sich. Damit ergibt sich das Bild eines angepaßten, höflichen Zeitgenossen, der wegen seiner Verläßlichkeit beliebt ist, dem es aber an spontaner emotionaler Wärme mangelt und der innere Unsicherheit durch übertriebene Selbst-Wachsamkeit verdeckt. Oft beobachtet man rastlose Aktivität, die Unfähigkeit, einfach mal nichts zu tun, ohne die innere Unruhe, man könne wichtige Zeit vergeuden.
In der Tat ist eine solches Persönlichkeitsprofil unter Migränikern häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Man muß aber bedenken, daß ein ähnliches Charakterbild auch für Infarkt- und Krebspatienten beschrieben wird. Es scheint, daß starke Selbst-Beherrschung und mangelnde Spontaneität in den Gefühlsäußerungen generell ein Risikofaktor für alle Krankheiten darstellt, auf deren Entstehung und Verlauf die Psyche einen großen Einfluß hat. Dieses Charakterbild erklärt nicht, wieso nicht mindestens ebensoviel Männer wie Frauen an Migräne leiden. Und warum auch gelassene Charaktere erkranken.
Immerhin ergibt sich daraus, daß Migräniker mit den beschriebenen Charaktereigenschaften bessere Heilungschancen haben, wenn sie es schaffen, ihre Selbst-Kontrolle zu lockern. Alles, was heute als Bestandteil einer gesunden Lebensweise gilt – Regelmäßigkeit, Exzesse vermieden, körperliche Bewegung, früchtereiche Ernährung – mildert auch die Stärke und Häufigkeit von Migräneattacken. Es kommt also stark auf das Verhalten zwischen den Attacken, in der Zeit relativen Wohlbefindens, an. Ausdauersport über Jahre, zwei, drei Stunden in der Woche, bringt bei der Mehrzahl der Patienten die Migräne die Beschwerden nach und nach zum Verschwinden. Betroffene, die so schwere Anfälle haben, das selbst starke Schmerzmittel nicht mehr helfen, erfahren durch körperliche Bewegung zumindest eine Milderung des Schmerzes, so daß die Tabletten und Infektionen wieder helfen.
Migräneattacken entwickeln sich meist nicht völlig spontan, sondern werden durch Umweltereignisse ausgelöst. Dazu gehören Ärger, Streß, Wetterumschwünge, veränderte Schlaf- und Aufstehzeiten, Lärm, grelles Licht, aber auch Hormonausschüttungen. Es wird empfohlen, ein Migränetagebuch zu führen und genau zu registieren, welche Bedingungen den Schmerz auslösen. Dadurch erfährt der Betroffene, worauf er achten muß. Leider lassen sich viele Reize nicht vermeiden. Das genaue Achten auf die Auslöser kann unter Umständen die Sensibilität und damit die Schmerzempfindlichkeit für diese Reize noch erhöhen. Andererseits kann der Arzt in Zusammenarbeit mit einem Psychotherapeuten eine Desensibilisierungtherapie versuchen, die die Empfindlichkeit für einen unvermeidbaren Auslöser verringert.
In der Praxis gelang es in der Mehrzahl der Fälle bisher nicht, das Leiden gänzlich zu heilen. Dennoch gibt es eine Reihe neuer Möglichkeiten, die Beschwerden zu verringern. Die Schwierigkeit besteht weniger darin, eine Therapie zu finden, die sich bei Migräne bewährt hat – davon gibt es viele – sondern daraus diejenige auszuwählen, die dem konkreten Patienten, der gerade die Sprechstunde aufsucht, helfen wird.
Sämtliche Entspannungsmethoden wie Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung, Meditation, Musiktherapie oder Yoga haben auch schon Migränikern geholfen – leider ist bei manchen die Wirkung nur gering oder bleibt ganz aus. Durch das Hören entspannender Musik kann man Attacken mildern, wenn man dabei sich beruhigende Szenen und Bilder vor Augen führt – zum Beispiel eine Blumenwiese oder einen verlassenen Strand mit Palmen und sanftem Meeresrauschen.
Joggen ist sehr oft hilfreich, sofern sich der Betroffene zu einem regelmäßigen Training überwinden kann und sich darauf einstellt, daß die Besserung nicht sofort eintritt. Bei vielen wird Migräne durch bestimmte Nahrungsstoffe ausgelöst. Wer Rotwein, Süßigkeiten, Kaffee, scharfe Gewürze und unter Umständen auch eiweißreiche Nahrung (Milchprodukte, Fleisch) einschränkt, erreicht nicht selten eine deutliche Linderung der Anfälle.
Manchmal helfen natürliche Heilmittel wie Schlüsselblumentee, insbesondere bei Patienten, bei denen Autogenes Training wirkungslos blieb. Das Getränk hat gefäßverengende Eigenschaften. Frauen, deren Migräne durch den Zyklus ausgelöst wird, sind erfolgreich mit hochdosiertem Magnesium (täglich 0,6 Gramm) behandelt worden.
Die Pharmaindustrie forscht zur Zeit an Medikamenten, die die Reaktion bereits im Gehirn anhalten, damit Entzündungen gar nicht erst entstehen. Zu den wirksamsten Mitteln, die schon auf dem Markt sind, gehören Triptane. Sie helfen selbst dann noch, wenn eine Attacke schon im Gang ist.
Kinder können erfolgreicher geheilt werden als Erwachsene. Deswegen sollten Eltern ihr Kind, falls es öfter unter Kopfschmerzen leidet, einem Arzt vorstellen. In diesem Alter sind auch noch Charaktereigenschaften, die Migräne fördern, durch Erziehung auszugleichen.
Adressen von Schmerzspezialisten und Selbsthilfegruppen gibt es zum Beispiel über die Migräne Liga, 65462 Ginsheim-Gustavsburg, Tel.: 06144/2211, im Internet unter www.migraeneliga-deutschland.de.
 
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