EGONET.de
Ausgabe 11/1999
Webaholics, Bodyholics, Manieholics
Von der Sucht, ständig neue Süchte zu entdecken

Arbeitssucht, Spielsucht, Kaufsucht, Telefonitis – die Zahl der bekannten Abhängigkeiten wächst ständig. Gibt es überhaupt soviel Süchtige, wie es Süchte gibt? Oder sind wir alle irgendwie süchtig?  
Columbus ist schuld! Er entdeckte nicht nur Amerika, sondern auch den Tabak. Damit trat das erfolgreichste Suchtmittel aller Zeiten seinen Siegeszug durch die abendländische Kultur an, das seither viele tausend Nachfahren der Amerikaeroberer das Leben gekostet hat. Lungenkrebs, Raucherbein und Infarkte infolge verengter Arterien gehören nun zu unserem Alltag – eine Entwicklung, die mit einem milliardenschweren Prozeß gegen die amerikanischen Tabakkonzerne im Juni 1997 einen neuen Höhepunkt erreichte. Er endete mit einem Vergleich: Die Konzerne zahlen in den nächsten 25 Jahren 368,5 Milliarden Dollar für die Bekämpfung der gesundheitlichen Folgen ihrer Produkte, schränken ihre Werbung stark ein und finanzieren Anti-raucherkampagnen.

Der letzte Punkt dürfte bei den Managern nur ein Grinsen hervorrufen. Auch wenn Abstinenzler und wohlmeinende Aufklärer nie aufgeben: Auf Warnungen vor Gefahren reagiert der Mensch bekanntlich nicht mit Enthaltsamkeit, sondern mit wachsender Neugier.

Stellen wir das Problem in einen größeren Zusammenhang: Sucht ist ein Alltagsphänomen, und keiner von uns ist frei davon. 20 Millionen Raucher, 2,5 Millionen Alkoholiker, zwei Millionen Medikamenten-süchtige, dazu eine Viertelmillion Konsumenten illegaler Drogen – da kommt was zusammen. Sie fragen sich: Was geht das mich an? Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme keine Tabletten und kein Kokain.

Freuen Sie sich nicht zu früh. Mediziner der verschiedensten Spezialisierungen haben längst nachgewiesen, daß Sucht-verhalten sich nicht auf chemische Substanzen beschränkt. Das weiß auch der Volksmund. Spricht man nicht seit Jahrhunderten von Freßsucht, Streitsucht, Sehnsucht, Geltungssucht, Habsucht?

Die Gefahr lauert überall. Sind Sie zum Beispiel in einem Karriereberuf tätig und fürchten, sich noch nicht genügend hervorgetan zu haben, um der erste Anwärter für den Aufstieg in der Hierarchie zu werden? Kreisen ihre Gedanken immer um die Arbeit? Haben Sie ständig das Gefühl, nicht alles Notwendige erledigt zu haben? Erfinden Sie plausible Gründe, warum Sie mehr arbeiten als unbedingt notwendig? Arbeiten Sie manchmal heimlich, um sich gegenüber der Familie nicht für Ihr dauerndes Schaffen rechtfertigen zu müssen? Sind Sie bestrebt, auch Urlaub und Freizeit nützlich durchzuorganisieren? Workaholic, lautet die Diagnose. Dann sind Sie arbeitssüchtig. Es lauern Dauerstreß, Erschöpfung der Leistungsreserven und der Herzinfarkt noch vor der Rente. Übrigens: auch übereifrige Schüler (sogenannte Streber) Hausfrauen mit permanent schlechtem Gewissen sowie Arbeitslose und Rentner, die regelrecht verzweifeln, wenn sie keine gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen haben, sind Opfer der Arbeitssucht.

Kann Ihnen nicht passieren? Aber vielleicht geben Sie gern Geld aus? Sie genießen es, stundenlang durch Geschäftspassagen zu flanieren und – vor allem, wenn Sie sich langweilen oder sich geärgert haben und mal wieder ein Erfolgserlebnis brauchen – sich hin und wieder mit einem neuen Paar Schuhe oder einer schönen Vase zu belohnen? Sie ziehen die Schuhe ein, zwei Mal an, dann stellen Sie sie in den Schrank und vergessen Sie allmählich? Zur gleichen Zeit erwacht in Ihnen die Lust auf ein neues Paar Schuhe? Die Diagnose lautet Kaufsucht. Falls Sie Ihren Konsumtrieb vorzugsweise über Versandhauskataloge befriedigen: Bestellsucht.

Der finanzielle Kollaps droht auch, wenn Sie gern jene Etablissements betreten, an deren Eingangstür ein Schild warnt: „Zutritt nur für Personen ab 18 Jahre!" Drinnen locken jedoch keine leicht bekleideten Mädchen, sondern lärmende Apparate mit flimmernden Bildschirmen, rollenden Kugeln und einem Münzeinwurfschlitz. Wir befinden uns an einem Treffpunkt für Spielsüchtige. Diese Hallen haben wenig gemein mit den Roulettetischen früherer Jahrhunderte, an denen Adlige an einem Abend durchbrachten, was Hunderte ihrer Untertanen in Jahrzehnten im Schweiße ihres Angesichts erarbeiteten – von Dostojewski in seinem Roman „Der Spieler" so unnachahmlich beschrieben. Heute treffen wir an den Automaten weder Alexej Iwanowitsch und seine Polina noch James Bond und Doktor No, sondern vorzugsweise ganz normale Männer zwischen zwanzig und vierzig mit eher niedrigem Einkommen. Mit der Spannungsfrage „Rollt der Rubel oder nicht?" (meistens rollt er nicht) töten sie das Gefühl der Langeweile, das ihr Leben beherrscht. Anfangs herrscht noch die Hoffnung auf den großen Gewinn, der ihr Dasein umkrempeln wird. Später tritt Gewöhnung ein, die Dosis muß gesteigert werden – bis zum Bankrott.

Sollte es Ihnen vielleicht gar nicht um finanzielle Anreize, sondern um den Kick der Gefahr gehen? Spüren Sie ein Hochgefühl, wenn die Angst Ihren Puls auf hundertachtzig treibt, das Adrenalin in Ihren Adern kreist und Sie dem Tod ins Auge schauen? Lieben Sie Vokabeln wie „meine Grenzen austesten" oder „dem Alltäglichen entfliehen"? Dann sind Sie nicht spiel-, sondern abenteuersüchtig! Bungee-Jumping, Free-Climbing und S-Bahn-Surfen – nicht nur die Gefahren, auch ihre Bezeichnungen sind immer exotischer geworden.

Nervenkitzel und glatte Felswände lassen Sie kalt? Vielleicht reizt Sie die Erotik eines schönen Körpers? Kreisen Ihre Gedanken des öfteren begehrlich um Personen des anderen (oder gar des eigenen) Geschlechts? Geht es Ihnen wie dem Mann aus dem berühmten Witz, dem Fotos von Bergen, Häusern, Autos und so weiter gezeigt werden und der auf die Frage, woran er bei ihrem Anblick denkt, stets antwortet: An Sex? Und auf die Nachfrage, wieso an Sex, entgegnet: weil ich immer an Sex denke. Sie ahnen es schon: das ist Sexsucht! Um dieser Diagnose zu entsprechen, müssen Sie weder ein leichtes Mädchen sein noch es so wild treiben wie Casanova. Schon wenn Sie sich ausschweifenden Phantasien hingeben, sich häufig unbefriedigt fühlen oder Sex-Shops auf Sie eine magische Anziehungskraft ausüben, gelten Sie als gefährdet.

Doch eventuell geht es Ihnen nicht vorrangig um fleischliches Begehren, sondern um die seelische Bindung zu einem anderen Menschen? Sie fürchten das Alleinsein und suchen um jeden Preis jemanden, der fest zu Ihnen hält? Sie sind sogar bereit, auf den anderen Rücksicht zu nehmen und in vielen Dingen zurückzustecken, nur damit der andere sich bei Ihnen wohlfühlt? Vor hundert Jahren hätte man das für erstrebenswert gehalten und nannte es „die wahre Liebe". Heute, im Zeitalter der Individualität, Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, lautet die Diagnose: Beziehungssucht! Die Frau von heute weiß: Gute Mädchen kommen zwar in den siebten Himmel, aber nur böse Mädchen kommen überall hin.

Wie steht es mit Ihrer Eifersucht? Wandeln Sie auf Othellos Spuren? Die prickelnde Angst, sich den Partner oder die Partnerin in fremden Armen vorzustellen, hält nicht nur die Seele in Spannung, sondern zieht auch den Körper in Mitleidenschaft: Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall und Gewichtsverlust sind nicht selten die Folge.

Sie sind Single oder führen eine tolerante Wochenendehe? Sie halten sich weiterhin gegen alle Süchte für immun? Abwarten. Möglicherweise sammeln Sie Briefmarken, Bierdeckel, One-Night-Stands, Erstausgaben, alte Weine, Kruzifixe, aufgespießte Käfer, übriggebliebene Tassen zerbrochener Kaffeeservices, Telefon- oder Visitenkarten? Sehr gefährlich! Sammler opfern nach und nach Geld, Freizeit und beträchtliche Wohnflächen in Gänze Ihrer Leidenschaft. Was als harmloses Vergnügen begann, wird schnell zum alles verzehrenden Interesse an einem sehr spezifischen Ausschnitt unserer Welt. Psychologen sprechen sogar von einer „Zwangsneurose, die sich in einem krankhaften Anhäufen unendlicher Varianten des immer gleichen Gegenstandstyps äußert".

Sie sammeln nicht mal Jugenderinnerungen und verbrennen Briefe noch am gleichen Tag? Aber bestimmt essen Sie zuviel oder zuwenig. Dann stehen die Befunde Freßsucht, Eß-Brech-Sucht und Magersucht zur Auswahl. Im ersten Fall können Sie keinem Eisbein oder Torte ausweichen. Im zweiten Fall überkommen Sie derartige Anfälle nur sporadisch (vergleichbar dem Quartalssäufer unter den Alkoholikern) und Sie geben alles unmittelbar nach dem Genuß halbverdaut wieder von sich, im dritten Fall ist Nahrungsvermeidung das Ziel Ihres Daseins. Die Zahl der Freßsüchtigen wird von Experten in Deutschland auf über eine Million geschätzt. Das Gegenstück, das freiwillige Zu-Tode-Hungern, billigte man bisher nur pubertären Mädchen mit wenig Selbstbewußtsein zu. Inzwischen gibt es auch magersüchtige Männer und Frauen jenseits der zwanzig, bei denen Diäten zur Sucht ausarten.

Die Fitnesswelle, hat dem Suchtverhalten neue Felder eröffnet. Bodyholics bringen sich in speziellen Studios an Kraftmaschinen ins Schwitzen oder rennen kilometerweit durch die Landschaft. Wer gegen Schweißausbrüche allergisch ist, malträtiert seinen Körper mit Vitaminpillen oder begibt sich für die Schönheit unters Messer. Skalpell-Junkies suchen, was der Normalmensch fürchtet: Narkose und Operationen.

Wenn Sie sich auch in den Gesundheitssüchten nicht wiedergefunden haben – die Mediziner haben Warnungen vor vielen weiteren Abhängigkeiten im Angebot. Beispielsweise die Wasch- und Putzsucht. Oder die Sucht, alles was nicht niet- und nagelfest ist, mitgehen zu lassen – seit alters her Kleptomanie genannt. Ihr Gegenstück ist die Kleptophobie, das ständige Bemühen, sich vor möglichem Diebstahl durch andere zu sichern. Was täten die Produzenten von Stahltüren, Spezialschlüsseln, Alarmanlagen und die Verkäufer von Versicherungen ohne ihre Junkies?

Nicht zu vergessen die Computersucht. Sie hält ihre Opfer nicht nur stundenlang vor dem Bildschirm und am Internet fest, sondern zwingt sie auch, ihre Ersparnisse laufend in die neueste Technik und die neuesten Programme umzusetzen. Ihre Dealer sind professionell organisiert und heißen Microsoft und IBM. Das Internet sichert, daß den Webaholics nie der Stoff ausgeht. Die Zahl der Seiten im World Wide Web wächst so schnell, daß auch der eifrigste Surfer mit dem Anklicken nicht hinterher kommt.

Beinahe täglich profilieren sich Journalisten und Fachleute mit der Entdeckung neuer Suchtgefahren. Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke brachten die Gründe in ihrem Buch „Krankheit als Weg" auf den Punkt: „Alle Formen machen süchtig, wenn man sie nicht durchschaut: Geld, Macht, Ruhm, Besitz, Einfluß, Wissen, Vergnügen, Essen, Trinken, Askese, religiöse Vorstellungen, Drogen. Was immer es ist – alles hat seine Berechtigung als Erfahrung, und alles kann zum Suchtmittel werden, wenn wir versäumen, uns davon wieder zu lösen."

Na bitte – Manieholics! Das sind Leute, die süchtig nach neuen Süchten sind. Wollen Sie unter diesen Umständen immer noch behaupten, Sie seien frei davon? Dann gehören Sie zu den wenigen, denen es in unserer schnellebigen Zeit gelingt, vorzugsweise und mit Muße gar nichts zu tun. Sie frönen einer unerschütterlichen Ruhe und Trägheit.

Kurz gesagt: Ihre Sucht ist die Faulheit.

Gekürzt aus: Frank Naumann: Mut zur Krankheit oder die Lust am Unwohlsein. Die ultimative Verteidungsschrift für Gesundheitsmuffel, Hobbypatienten und Berufshypochonder.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Gesundheit Berlin.

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