Columbus ist schuld! Er entdeckte nicht nur Amerika, sondern
auch den Tabak. Damit trat das erfolgreichste Suchtmittel aller Zeiten seinen
Siegeszug durch die abendländische Kultur an, das seither viele tausend
Nachfahren der Amerikaeroberer das Leben gekostet hat. Lungenkrebs, Raucherbein
und Infarkte infolge verengter Arterien gehören nun zu unserem Alltag
eine Entwicklung, die mit einem milliardenschweren Prozeß gegen
die amerikanischen Tabakkonzerne im Juni 1997 einen neuen Höhepunkt
erreichte. Er endete mit einem Vergleich: Die Konzerne zahlen in den
nächsten 25 Jahren 368,5 Milliarden Dollar für die Bekämpfung
der gesundheitlichen Folgen ihrer Produkte, schränken ihre Werbung stark
ein und finanzieren Anti-raucherkampagnen.
Der letzte Punkt dürfte bei den Managern nur ein Grinsen hervorrufen.
Auch wenn Abstinenzler und wohlmeinende Aufklärer nie aufgeben: Auf
Warnungen vor Gefahren reagiert der Mensch bekanntlich nicht mit Enthaltsamkeit,
sondern mit wachsender Neugier.
Stellen wir das Problem in einen größeren Zusammenhang: Sucht
ist ein Alltagsphänomen, und keiner von uns ist frei davon. 20 Millionen
Raucher, 2,5 Millionen Alkoholiker, zwei Millionen Medikamenten-süchtige,
dazu eine Viertelmillion Konsumenten illegaler Drogen da kommt was
zusammen. Sie fragen sich: Was geht das mich an? Ich rauche nicht, ich trinke
nicht, ich nehme keine Tabletten und kein Kokain.
Freuen Sie sich nicht zu früh. Mediziner der verschiedensten
Spezialisierungen haben längst nachgewiesen, daß Sucht-verhalten
sich nicht auf chemische Substanzen beschränkt. Das weiß auch
der Volksmund. Spricht man nicht seit Jahrhunderten von Freßsucht,
Streitsucht, Sehnsucht, Geltungssucht, Habsucht?
Die Gefahr lauert überall. Sind Sie zum Beispiel in einem Karriereberuf
tätig und fürchten, sich noch nicht genügend hervorgetan zu
haben, um der erste Anwärter für den Aufstieg in der Hierarchie
zu werden? Kreisen ihre Gedanken immer um die Arbeit? Haben Sie ständig
das Gefühl, nicht alles Notwendige erledigt zu haben? Erfinden Sie plausible
Gründe, warum Sie mehr arbeiten als unbedingt notwendig? Arbeiten Sie
manchmal heimlich, um sich gegenüber der Familie nicht für Ihr
dauerndes Schaffen rechtfertigen zu müssen? Sind Sie bestrebt, auch
Urlaub und Freizeit nützlich durchzuorganisieren? Workaholic, lautet
die Diagnose. Dann sind Sie arbeitssüchtig. Es lauern Dauerstreß,
Erschöpfung der Leistungsreserven und der Herzinfarkt noch vor der Rente.
Übrigens: auch übereifrige Schüler (sogenannte Streber) Hausfrauen
mit permanent schlechtem Gewissen sowie Arbeitslose und Rentner, die regelrecht
verzweifeln, wenn sie keine gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen
haben, sind Opfer der Arbeitssucht.
Kann Ihnen nicht passieren? Aber vielleicht geben Sie gern Geld aus? Sie
genießen es, stundenlang durch Geschäftspassagen zu flanieren
und vor allem, wenn Sie sich langweilen oder sich geärgert haben
und mal wieder ein Erfolgserlebnis brauchen sich hin und wieder mit
einem neuen Paar Schuhe oder einer schönen Vase zu belohnen? Sie ziehen
die Schuhe ein, zwei Mal an, dann stellen Sie sie in den Schrank und vergessen
Sie allmählich? Zur gleichen Zeit erwacht in Ihnen die Lust auf ein
neues Paar Schuhe? Die Diagnose lautet Kaufsucht. Falls Sie Ihren Konsumtrieb
vorzugsweise über Versandhauskataloge befriedigen: Bestellsucht.
Der finanzielle Kollaps droht auch, wenn Sie gern jene Etablissements betreten,
an deren Eingangstür ein Schild warnt: Zutritt nur für Personen
ab 18 Jahre!" Drinnen locken jedoch keine leicht bekleideten Mädchen,
sondern lärmende Apparate mit flimmernden Bildschirmen, rollenden Kugeln
und einem Münzeinwurfschlitz. Wir befinden uns an einem Treffpunkt für
Spielsüchtige. Diese Hallen haben wenig gemein mit den Roulettetischen
früherer Jahrhunderte, an denen Adlige an einem Abend durchbrachten,
was Hunderte ihrer Untertanen in Jahrzehnten im Schweiße ihres Angesichts
erarbeiteten von Dostojewski in seinem Roman Der Spieler" so
unnachahmlich beschrieben. Heute treffen wir an den Automaten weder Alexej
Iwanowitsch und seine Polina noch James Bond und Doktor No, sondern vorzugsweise
ganz normale Männer zwischen zwanzig und vierzig mit eher niedrigem
Einkommen. Mit der Spannungsfrage Rollt der Rubel oder nicht?" (meistens
rollt er nicht) töten sie das Gefühl der Langeweile, das ihr Leben
beherrscht. Anfangs herrscht noch die Hoffnung auf den großen Gewinn,
der ihr Dasein umkrempeln wird. Später tritt Gewöhnung ein, die
Dosis muß gesteigert werden bis zum Bankrott.
Sollte es Ihnen vielleicht gar nicht um finanzielle Anreize, sondern um den
Kick der Gefahr gehen? Spüren Sie ein Hochgefühl, wenn die Angst
Ihren Puls auf hundertachtzig treibt, das Adrenalin in Ihren Adern kreist
und Sie dem Tod ins Auge schauen? Lieben Sie Vokabeln wie meine Grenzen
austesten" oder dem Alltäglichen entfliehen"? Dann sind Sie nicht
spiel-, sondern abenteuersüchtig! Bungee-Jumping, Free-Climbing und
S-Bahn-Surfen nicht nur die Gefahren, auch ihre Bezeichnungen sind
immer exotischer geworden.
Nervenkitzel und glatte Felswände lassen Sie kalt? Vielleicht reizt
Sie die Erotik eines schönen Körpers? Kreisen Ihre Gedanken des
öfteren begehrlich um Personen des anderen (oder gar des eigenen)
Geschlechts? Geht es Ihnen wie dem Mann aus dem berühmten Witz, dem
Fotos von Bergen, Häusern, Autos und so weiter gezeigt werden und der
auf die Frage, woran er bei ihrem Anblick denkt, stets antwortet: An Sex?
Und auf die Nachfrage, wieso an Sex, entgegnet: weil ich immer an Sex denke.
Sie ahnen es schon: das ist Sexsucht! Um dieser Diagnose zu entsprechen,
müssen Sie weder ein leichtes Mädchen sein noch es so wild treiben
wie Casanova. Schon wenn Sie sich ausschweifenden Phantasien hingeben, sich
häufig unbefriedigt fühlen oder Sex-Shops auf Sie eine magische
Anziehungskraft ausüben, gelten Sie als gefährdet.
Doch eventuell geht es Ihnen nicht vorrangig um fleischliches Begehren, sondern
um die seelische Bindung zu einem anderen Menschen? Sie fürchten das
Alleinsein und suchen um jeden Preis jemanden, der fest zu Ihnen hält?
Sie sind sogar bereit, auf den anderen Rücksicht zu nehmen und in vielen
Dingen zurückzustecken, nur damit der andere sich bei Ihnen wohlfühlt?
Vor hundert Jahren hätte man das für erstrebenswert gehalten und
nannte es die wahre Liebe". Heute, im Zeitalter der Individualität,
Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, lautet die Diagnose:
Beziehungssucht! Die Frau von heute weiß: Gute Mädchen kommen
zwar in den siebten Himmel, aber nur böse Mädchen kommen überall
hin.
Wie steht es mit Ihrer Eifersucht? Wandeln Sie auf Othellos Spuren? Die
prickelnde Angst, sich den Partner oder die Partnerin in fremden Armen
vorzustellen, hält nicht nur die Seele in Spannung, sondern zieht auch
den Körper in Mitleidenschaft: Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall
und Gewichtsverlust sind nicht selten die Folge.
Sie sind Single oder führen eine tolerante Wochenendehe? Sie halten
sich weiterhin gegen alle Süchte für immun? Abwarten.
Möglicherweise sammeln Sie Briefmarken, Bierdeckel, One-Night-Stands,
Erstausgaben, alte Weine, Kruzifixe, aufgespießte Käfer,
übriggebliebene Tassen zerbrochener Kaffeeservices, Telefon- oder
Visitenkarten? Sehr gefährlich! Sammler opfern nach und nach Geld, Freizeit
und beträchtliche Wohnflächen in Gänze Ihrer Leidenschaft.
Was als harmloses Vergnügen begann, wird schnell zum alles verzehrenden
Interesse an einem sehr spezifischen Ausschnitt unserer Welt. Psychologen
sprechen sogar von einer Zwangsneurose, die sich in einem krankhaften
Anhäufen unendlicher Varianten des immer gleichen Gegenstandstyps
äußert".
Sie sammeln nicht mal Jugenderinnerungen und verbrennen Briefe noch am gleichen
Tag? Aber bestimmt essen Sie zuviel oder zuwenig. Dann stehen die Befunde
Freßsucht, Eß-Brech-Sucht und Magersucht zur Auswahl. Im ersten
Fall können Sie keinem Eisbein oder Torte ausweichen. Im zweiten Fall
überkommen Sie derartige Anfälle nur sporadisch (vergleichbar dem
Quartalssäufer unter den Alkoholikern) und Sie geben alles unmittelbar
nach dem Genuß halbverdaut wieder von sich, im dritten Fall ist
Nahrungsvermeidung das Ziel Ihres Daseins. Die Zahl der Freßsüchtigen
wird von Experten in Deutschland auf über eine Million geschätzt.
Das Gegenstück, das freiwillige Zu-Tode-Hungern, billigte man bisher
nur pubertären Mädchen mit wenig Selbstbewußtsein zu. Inzwischen
gibt es auch magersüchtige Männer und Frauen jenseits der zwanzig,
bei denen Diäten zur Sucht ausarten.
Die Fitnesswelle, hat dem Suchtverhalten neue Felder eröffnet. Bodyholics
bringen sich in speziellen Studios an Kraftmaschinen ins Schwitzen oder rennen
kilometerweit durch die Landschaft. Wer gegen Schweißausbrüche
allergisch ist, malträtiert seinen Körper mit Vitaminpillen oder
begibt sich für die Schönheit unters Messer. Skalpell-Junkies suchen,
was der Normalmensch fürchtet: Narkose und Operationen.
Wenn Sie sich auch in den Gesundheitssüchten nicht wiedergefunden haben
die Mediziner haben Warnungen vor vielen weiteren Abhängigkeiten
im Angebot. Beispielsweise die Wasch- und Putzsucht. Oder die Sucht, alles
was nicht niet- und nagelfest ist, mitgehen zu lassen seit alters
her Kleptomanie genannt. Ihr Gegenstück ist die Kleptophobie, das
ständige Bemühen, sich vor möglichem Diebstahl durch andere
zu sichern. Was täten die Produzenten von Stahltüren,
Spezialschlüsseln, Alarmanlagen und die Verkäufer von Versicherungen
ohne ihre Junkies?
Nicht zu vergessen die Computersucht. Sie hält ihre Opfer nicht nur
stundenlang vor dem Bildschirm und am Internet fest, sondern zwingt sie auch,
ihre Ersparnisse laufend in die neueste Technik und die neuesten Programme
umzusetzen. Ihre Dealer sind professionell organisiert und heißen Microsoft
und IBM. Das Internet sichert, daß den Webaholics nie der Stoff ausgeht.
Die Zahl der Seiten im World Wide Web wächst so schnell, daß auch
der eifrigste Surfer mit dem Anklicken nicht hinterher kommt.
Beinahe täglich profilieren sich Journalisten und Fachleute mit der
Entdeckung neuer Suchtgefahren. Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke
brachten die Gründe in ihrem Buch Krankheit als Weg" auf den Punkt:
Alle Formen machen süchtig, wenn man sie nicht durchschaut: Geld,
Macht, Ruhm, Besitz, Einfluß, Wissen, Vergnügen, Essen, Trinken,
Askese, religiöse Vorstellungen, Drogen. Was immer es ist alles
hat seine Berechtigung als Erfahrung, und alles kann zum Suchtmittel werden,
wenn wir versäumen, uns davon wieder zu lösen."
Na bitte Manieholics! Das sind Leute, die süchtig nach neuen
Süchten sind. Wollen Sie unter diesen Umständen immer noch behaupten,
Sie seien frei davon? Dann gehören Sie zu den wenigen, denen es in unserer
schnellebigen Zeit gelingt, vorzugsweise und mit Muße gar nichts zu
tun. Sie frönen einer unerschütterlichen Ruhe und Trägheit.
Kurz gesagt: Ihre Sucht ist die Faulheit.
Gekürzt
aus: Frank Naumann: Mut zur Krankheit oder die Lust am Unwohlsein. Die ultimative
Verteidungsschrift für Gesundheitsmuffel, Hobbypatienten und
Berufshypochonder.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Gesundheit Berlin.