Das Leben ist ungerecht:
- Einer hat jahrelang teure Musikstunden bezahlt und es
auf seinem Instrument zu einer gewissen Perfektion gebracht
und muß zusehen, wie jemand, der kaum Noten lesen
kann, als Popstar Millionen verdient.
- Eine junge Frau ist nett, gebildet und kann kochen wie
ein Weltmeister und muß erleben, wie die Schulabbrecherin
aus dem Nebenhaus mit ein bißchen Hüftewackeln
und gespielter Hilflosigkeit den tollen Typen aus dem
Rechtsanwaltsbüro abschleppt.
- Das Ehepaar, das wegen seines unerfüllten Kinderwunsches
eine Odyssee durch Dutzende Arztpraxen und Kliniken hinter
sich hat, muß zähneknirschend mit anhören,
wie der junge Mann am Nebentisch im Restaurant sich bei
seinen Kumpels beklagt, daß er Probleme hat, seine
Neue zur Abtreibung zu überreden.
In Talkshows sprechen Leute heutzutage offen über
ihren Exhibitionismus, ihre Drogenkarriere oder warum sie
ihre Partnerin verprügeln oder sich von ihr verprügeln
lassen. Auch Themen wie "Meine Tochter hat mir den Mann
weggenommen" sind längst Routine - die betroffenen
Mütter beklagen den Vertrauensbruch, keine gibt zu,
daß sie ihre Tochter um ihre Jugend und Unbekümmertheit
beneidet. Neidisch zu sein gilt als böse, als giftig
("grün vor Neid"), bestenfalls als Zeichen von Schwäche.
Jeder von uns kennt Neidgefühle. Mit dem wachsenden
Wohlstand sind die Gründe für Neid keineswegs
geringer geworden. Beneidete man früher Menschen, die
sich jederzeit satt essen konnten, gilt heute der Neid denjenigen,
die angesichts aller Leckereien schlank bleiben.
Glücklich, wer neidische Gefühle überwindet
und zu einer großzügigen Haltung findet, wer
trotz eigener Mühen und Mißerfolge anderen ihre
leicht errungenen Siege gönnt. Viel häufiger freilich
maskiert sich der Neid hinter Sätzen wie
- "Wer so aussieht wie sie ..."
- "Ihr Alter hat das für sie gedeichselt."
- "Er muß blind sein. Keine Ahnung, was er an ihr
findet."
- "Warten wir es ab. Sie wird es noch bereuen, sich darauf
eingelassen zu haben."
- "Mit ihr tauschen? Nie im Leben."
- "Soll sie. Mir ist es völlig egal."
- "Schade. Er hat sich verändert, nicht zum Guten."
- "Boris Becker und Babs galten auch mal als Traumpaar."
Wird der Neid verdrängt, frißt er entweder im
Inneren weiter oder führt irgendwann zur Resignation
wegen der Ungerechtigkeit des Lebens. Gesünder ist
es, sich seine Gefühle einzugestehen und für sich
nutzbar zu machen. Der beneidete Erfolg eines anderen verrät
uns etwas über unsere eigenen Wünsche und Sehnsüchte.
Denn nicht jeden Erfolg beneiden wir. Die junge Ehefrau
beneidet ihre Freundin um ihr süßes Baby - was
aber deren wohlhabenden Ehemann betrifft, der arbeitssüchtig
und nie zu Hause ist, würde sie nicht mit ihr tauschen
wollen. Eine Hobbyschneiderin beneidet eine bekannte Modeschöpferin
um ihre tollen Entwürfe. Daß die Profifrau damit
aber einen Haufen Geld verdient und Journalisten ihr die
Bude einrennen, läßt sie gleichgültig.
Zuerst gilt es also herauszufinden, welchen Aspekt des
Erfolges anderer wir uns wünschen. Die Tätigkeit?
Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit? Das Geld? Den
Neid anderer (und damit den Erfolg an sich)?
Als nächstes leiten sie Ihr eigenes Ziel ab. Wollen
Sie exakt dasselbe wie die beneidete Person? Bloßes
Nachahmen führt meist in eine Sackgasse. Imitatoren
werden selten so erfolgreich wie die Originale. Stellen
Sie auch die Unterschiede in den Charakteren und Lebensläufen
in Rechnung.
Statt am Neid zu knabbern, betrachten Sie die Person, an
deren Stellen Sie gern wären, als Vorbild. Auch wenn
Sie meinen, der Erfolg wäre ihr unverdient zugefallen.
Versuchen Sie so genau wie möglich herauszufinden,
wie sie ihr Glück errungen hat. Wenn möglich,
indem sie ihr zum Erfolg gratulieren und sich erzählen
lassen, wie sie es geschafft hat. Wenn sie jemanden um seine
tolle, preisgünstige Wohnung beneiden, lassen Sie sich
erzählen, wie er sie gefunden und gemietet hat. Wenn
jemand Ihren Traumjob hat, erkundigen sie sich nach seinen
Bewerbungsstrategien und seinen Kontakten. Keine Angst vor
dem Eingeständnis "Ich beneide dich um deinen Erfolg."
Es klingt für den anderen nach Bewunderung.
Selbst wenn Sie nicht soviel Erfolg haben werden wie die
beneidete Person: Zielgerichtete Aktivität verringert
den Neid, statt ihn hoffnungslos zu vergrößern.
Je mehr wir die Umstände kennenlernen, die mit dem
Erringen eines Sieges verbunden sind, desto realistischer
werden wir im Einschätzen des Für und Wider. Starker
Neid lebt von der Überschätzung des Schönen,
das mit einem beneideten Gut einher geht, und von der Unterschätzung
der Lasten, die der Erfolg mit sich bringt. Von Oscar Wilde
stammt der Spruch, nur eins sei schlimmer als unerfüllte
Träume: seine Träume Realität werden zu sehen.
Wilde meinte damit ein Phänomen, das sich erst im
Angesicht des Sieges zeigt: daß das Erlangen des Spitzenjobs,
der ersten Million oder des Traummannes keineswegs alle
Probleme beseitigt, mit denen man sich bisher herumschlug.
Durch bloßen Neid aus der Ferne werden wir nie herausfinden,
ob das auch für unsere Träume zutrifft. Die beste
Therapie gegen giftige Gefühle bleibt daher das Erkunden
der eigenen Wünsche und das Bemühen, sie zu verwirklichen.