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- Vor mir steht ein Obstkorb mit kräftig-roten
Äpfeln. Mich überkommt eine Vorahnung von
saftig süßsäuerlichem Geschmack. Lecker und so
gesund! Entschlossen greife ich zu und beiße
herzhaft hinein. Aber was ist das? Meine Zähne
beißen auf harten Wachs. Angeekelt spucke ich
aus und werfe das falsche Kunstprodukt von mir.
- Mit diesem und ähnlichen Experimenten haben
Psychologen die Allgegenwart von Vorurteilen
nachgewiesen. Wir benutzen unser Wissen, das
teils aus eigener Erfahrung, teils aber aus
fremden, theoretischen Informationen besteht, um
uns im Alltag zurechtzufinden. Welche Mühsal
käme auf uns zu, wenn wir jedesmal, wenn wir in
den Obstkorb greifen, erst mißtrauisch prüfen
müßten, ob das Innere hält, was das Äußere
verspricht! Meistens haben wir recht, wenn wir
uns auf unsere Vor-Urteile verlassen. Wir kaufen
einen Plastikbecher, auf dem das Wort
Joghurt" steht und löffeln ohne
nachzudenken, die weiße Masse und sind
überzeugt, uns 150 Gramm bekömmliche Gesundheit
einverleibt zu haben. Um so größer der Schock,
wenn wir abends in den Nachrichten erfahren, daß
ein anonymer Erpresser einige dieser Becher
vergiftet hat.
- Niemand wird behaupten, man könne im Alltag ohne
diese Art von Vorurteilen auskommen, selbst wenn
wir gelegentlich dabei hereinfallen. Die Flut der
Informationen und alltäglichen Verrichtungen
wäre nicht bewältigen, wenn wir vor jedem
Schritt die Haltbarkeit der Treppenstufen neu
prüfen müßten und bei jeder Begegnung mit
einem vertrauten Menschen uns die Angst quält,
er könne sich über Nacht in einen um sich
schießenden Psychopathen verwandelt haben.
- Anders sieht es aus, wenn wir den Bereich der
alltäglichen Verrichtungen verlassen. Das kann
schon passieren, wenn wir ein Flugzeug besteigen.
Flugzeuge sind die sichersten Verkehrsmittel der
Welt, das haben wir alle mal gehört. Aber in dem
Moment, da wir angeschnallt erleben, wie die
Maschine über das Startfeld rollt und beginnt,
vom Boden abzuheben, erweisen sich für viele die
Bilder von Flugzeugabstürzen und der Anblick des
leeren Raumes unterhalb des Fensters als
stärker.
- Das Extrem wird erreicht, wenn wir ein Urteil
über Dinge fällen sollen, die außerhalb
unseres persönlichen Erlebens liegen. Wir geben
unser Auto in die Durchsicht, und der Meister
konfrontiert uns mit der Nachricht, daß mehrere
Teile ausgewechselt werden müssen. Unter
dreitausend Mark kommen wir nicht davon. Glauben
Sie ihm die Notwendigkeit der Reparatur? Wenn Sie
nicht gerade ein Technikexperte sind und Ihr Auto
selbst durchchecken können, werden Sie sich auf
Vor-Urteile verlassen müssen. Die Informationen,
die sie dafür heranziehen, entstammen meist
nicht der Technik, sondern dem Umfeld. Sie gehen
danach, ob der Handwerker einen
vertrauenswürdigen Eindruck macht. Ob die
Begründung, die er gibt, schlüssig wirkt. Wie
fair Sie in der Vergangenheit von der Werkstatt
behandelt worden sind. Was Sie von Bekannten
über diese Art von Reparatur und über die
übliche Haltbarkeit gehört haben. Nicht zu
vergessen, das unbesehene Vertrauen in die
Glaubwürdigkeit von Experten eines der
weitverbreitesten Vorurteile.
- Kurz, Ihre Urteile entstammen früheren
Erfahrungen, der Körpersprache, der
Kommunikationsfähigkeit des Meisters und
allgemeinen gesellschaftlichen Überzeugungen.
Nichts davon beweist, daß die Reparatur
gerechtfertigt ist, aber was sollen Sie tun?
Sicher, Sie könnten eine andere Werkstatt um
einen Kostenvoranschlag bitten und vergleichen,
Sie könnten unabhängige Gutachter heranziehen,
aber das kostet Zeit und Geld, also stimmen Sie
zähneknirschend zu.
- In ähnlicher Weise bilden wir uns Meinungen
über die hohe Politik, über die Notwendigkeit
oder Nicht-Notwendigkeit von Steuerhöhungen bei
uns, über Recht und Unrecht der Serben im
Kosovo, über Israelis und Palästinenser, über
die Zustände in Polen, Rußland, Pakistan ...
alles auf Grund von Informationen aus zweiter
Hand. Diese Vorurteile tun uns weniger weh als
die Autoreparatur, weil die persönlichen
Nachteile, wenn wir falsch urteilen, keine Folgen
haben. Ob wir die neueste Steuer für
gerechtfertigt halten oder nicht zahlen
müssen wir doch.
- Das große Problem der modernen
Informationsgesellschaft besteht darin, daß
Informationen aus zweiter Hand immer weiter
zunehmen. Immer weniger Urteile beruhen auf
Informationen, die wir selbst gewonnen haben.
Jedes Mal, wenn wir zu einer Wahl gehen, erhalten
wir dafür den handgreiflichen Beweis. Worauf
gründet sich unser Urteil, an welcher Stelle wir
ein Kreuz machen? Letztlich gewinnt die Partei,
die es geschafft hat, die meisten positiven
Vorurteile zu Ihren Gunsten und die meisten
negativen Vorurteile gegen den gefährlichsten
Konkurrenten zu mobilisieren. Hält die Erfahrung
später nicht, was die Vorurteile versprachen,
ist eine Korrektur erst nach vier Jahren
möglich.
- Vorurteile gibt es überall, da wir ohne sie in
der Informationsflut handlungsunfähig wären.
Wir müssen Entscheidungsprozesse abkürzen,
indem wir uns auf ungeprüfte Informationen
verlassen. Solange dies im Bereich der
persönlichen Erfahrung geschieht, gibt es meist
wenig Probleme. Die Informationen aus eigener
Erfahrung sind in der Regel anschaulich, konkret,
differenziert und begründbar, das heißt, Sie
können genau angeben, wie Sie sie zu Ihrer
Meinung gelangt sind und warum Sie das Gegenteil
für falsch halten.
- Informationen aus zweiter Hand dagegen sind
allgemein, häufig verschwommen, theoretisch und
wenig differenziert. Die Begründungen sind
meistens nur teilweise oder gar nicht bekannt.
Mit ihnen gewinnt eine Form des Vorurteils die
Oberhand, die als Stereotyp bezeichnet wird.
- Der Ausdruck Stereotyp wie übrigens auch
das Wort Klischee kommt ursprünglich aus
der Druckereitechnik. Statt einzelne Buchstaben
zu einer Druckplatte zusammenzufügen, begann man
ab 1796 ganze Zeilen und Seiten aus einem Stück
zu gießen. Das Verfahren ist längst veraltet
geblieben ist seine Bezeichnung. Ein
Stereotyp heißt in der Psychologie ein stark
vereinfachendes Abbild komplizierter
Zusammenhänge. Da wir wissen, daß eine Sache zu
komplex ist um sie vollständig zu durchschauen,
verlassen wir uns ersatzweise auf ein Urteil,
daß nur ein, zwei Seiten der Sache in Betracht
zieht.
- Die komplizierten Sachverhalte auf der Welt sind
unsere Mitmenschen und andere Kulturen. Dort
kommen Stereotypen daher besonders oft zur
Anwendung. Nehmen wir ein Beispiel. Haben Sie
schon einmal einen Bekannten folgen Satz sagen
hören?
- Ihr wollt nach Polen, und dann auch noch
mit dem neuen Auto?"
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- Jeder versteht, was der Nachbar sagen will: Die
Polen klauen. Das Vorurteil beruht auf
Presseberichten über Autoschieberringe und
eventuell auf Gerüchten über eine Familie in
der näheren Umgebung, der bei eine Reise
Richtung Osten tatsächlich der neue Mercedes
abhanden kam.
- Dieser Stereotyp ist deshalb so interessant, weil
in den Achtzigern noch die Italiener den Rang des
diebischen Volkes inne hatten. Sie verdankten
ihren Ruf der Mafia. Wenn heute jemand nach
Italien fährt, und ihm wird im Gedränge in
Neapel oder Rom die Handtasche entwendet, fragt
der Geschädigte vielleicht: Was, fahren
die Polen jetzt schon zum Klauen nach
Italien?"
- Der Vorgang lehrt, wie ein Stereotyp zustande
kommt. Bestohlen werden, ist eine reale Gefahr,
die überall droht. Das menschliche Bedürfnis,
die Gefahr berechenbar zu machen, treibt den
verängstigten Bürger dazu, die Lage zu
vereinfachen: In Polen und Italien wird überall
geklaut, in anderen Ländern nicht.
- In Wirklichkeit wird in allen Ländern gestohlen,
die Unterschiede sind nur graduell. Durch die
Vereinfachung wird die Gefahr in Polen und
Italien überschätzt, in anderen Ländern
unterschätzt.
- Durch dieses Vorurteil übersieht man die
Kehrseite: daß die übergroße Mehrheit der
Polen und Italiener so ehrlich ist wie Sie und
ich. Stereotypen sind oft
Alles-oder-nichts-Urteile. Differenzierungen
machen Mühe, sie verlangen, detailliertere
Informationen heranzuziehen, Unterscheidungen zu
treffen. Ein Stereotyp, der alle Personen einer
Kultur über einen Kamm schert, spart die Mühe.
- Leider wird niemand ohne Stereotyp und Vorurteile
auskommen können. Die Forderung, jedermann
vorurteilsfrei zu begegnen und stets den
Einzelfall zu prüfen, ist nicht zu erfüllen.
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die
wichtigsten:
- · Niemand kennt alle Vorurteile, denen er folgt.
Manche sind uns so selbstverständlich, daß wir
sie gar nicht als Vorurteil erkennen können.
- · Oft müssen wir schnell handeln und sofort
eine Entscheidung treffen. Immer erst
differenzierte Informationen zu beschaffen und
die Motive anderer prüfen zu wollen, würde uns
handlungsunfähig machen. Den klassischen Fall,
wie zu langes Nachdenken die Sache noch schlimmer
macht, liefert Shakespeares Hamlet".
Sein Zaudern bei der Erfüllung des Versprechens,
seinen Vater zu rächen, führt am Ende zu einem
allgemeinen Abschlachten.
- Mit zunehmendem Alter verfestigen sich
individuelle Stereotypen auch dann, wenn
die Persönlichkeit nicht in Altersstarrsinn
erstarrt. Das hat mit der wachsenden Zunahme
vergangener Erfahrung zu tun, während die
individuelle Zukunft immer kürzer wird. Auch bei
Jüngeren können Stereotypen überhand nehmen
und ihre Flexibilität einschränken. Ein
typisches Beispiel sind neurotische
Zwangshandlungen.
- Was jeder tun kann: dafür sorgen, daß aus
seinen Vorurteilen keine krassen Fehler
erwachsen. Einige Tips:
- · Behalten Sie stets im Hinterkopf, daß ein
Teil der Informationen, auf Grund derer Sie
handeln, mit Sicherheit Vorurteile sind.
- · Fragen Sie so oft es geht: Warum?"
Versuchen Sie die Gründe Ihrer Meinungen zu
erkennen.
- · Stellen Sie sich öfter probeweise vor, das
Gegenteil wäre wahr. Was würde daraus folgen?
Weswegen lehnen Sie dieses Gegenteil ab? Aufgrund
überprüfbarer Informationen oder weil es Ihren
Lieblingsansichten zuwiderläuft?
- · Wenn jemand eine Auffassung vertritt, die Sie
ablehnen widerstehen Sie Ihrem spontanen
Impuls, dagegen zu argumentieren, sondern fragen
Sie Ihr Gegenüber, wie es zu seiner Meinung
kommt.
- · Seien Sie bereit, Fehler einzugestehen und zu
korrigieren, wenn sich im Nachhinein
herausstellt, daß Sie eine Entscheidung aufgrund
fragwürdiger Information gefällt haben.
- · Machen Sie sich bewußt, daß wir die
Stereotypen in den Ansichten anderer leicht
erkennen, aber blind sind für unsere eigenen
Vorurteile.
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