EGONET.de
Ausgabe 10/1999
Unser Titelthema
Transsexualität
Frauen, die Männer sind, und Männer, die Frauen sind

Nur eine einzige Einteilung der Menschen in zwei Gruppen hat sich über alle Kulturen, Völker und historische Epochen als stabil erwiesen: die in Frauen und Männer. Doch selbst hier begegnen uns immer wieder Personen, die die klaren Grenzen verwischen, die zwei Geschlechter in sich zu tragen scheinen.
 
„Ist es ein Junge oder ein Mädchen?" So lautet sinngemäß die erste Frage, die frischgebackene Eltern nach der Geburt an Arzt und Krankenschwestern richten. Doch selbst da, wo die Frage aufgrund eindeutiger körperlicher Indizien eindeutig beantwortet wird, kann sich später herausstellen, daß das Mädchen sich beharrlich weigert, Kleider zu tragen und mit Puppen zu spielen. Der Junge hat dagegen nichts lieber, als sich in Mädchenkleidern vor dem Spiegel zu drehen und in das Schminkköfferchen seiner Mutter zu greifen. Mit dem falschen Gehirn geboren, neurotisch oder lediglich Lust an Verkleidung und Schauspielerei?
Homosexualität und Transsexualität weisen viele Gemeinsamkeiten, insbesondere die sexuelle Orientierung auf Angehörige des eigenen Geschlechts, weswegen sie oft verwechselt werden. Schwule Männer und lesbische Frauen fühlen sich aber stets als das, was sie von ihrem Äußeren her sind: als Männer bzw. Frauen.
Transsexualität bedeutet dagegen, daß das eigene Empfinden der Geschlechtszuschreibung der Umwelt nicht entspricht. Der Mann fühlt sich als Frau, die Frau fühlt sich als Mann. Deswegen sind sie nur für die Umwelt homosexuell. Sie selbst empfinden heterosexuell: der Mann mit weiblicher Identität interessiert sich als Frau für Männer. Und umgekehrt.
Für Medizin und Psychologie stellt Transsexualität immer noch ein Rätsel dar. Folgende Theorien über die Gründe für den Geschlechtswechsel werden diskutiert:
Gendefekt: Irgendein Gen, das die Übereinstimmung von körperlichem und psychischem Geschlecht regelt, ist entweder defekt oder es wirkt aufgrund eines Fehlers bei der Zellteilung in den ersten Schwangerschaftswochen das Gen für das andere Geschlecht.
Vorgeburtlicher Streß. Zu einem Zeitpunkt, da sich das Geschlecht des Embryos entwickelt, war die Mutter einem Streß ausgesetzt – psychischer Mißhandlung, Angst, Mißerfolgen oder biologischen Einwirkungen (Drogen, Alkohol, Nikotin) – dadurch wurde ein wichtiger Entwicklungsschritt bei der eindeutigen Geschlechtsfestlegung ausgelassen.
Angeborene Bisexualität: Diese Theorie geht von der Vorstellung aus, daß das menschliche Geschlecht prinzipiell nicht eindeutig festgelegt ist, sondern erst die Kultur uns in bestimmte Geschlechtsrollen zwingt. Von Simone de Beauvoir stammt der Satz: On ne naît pas femme: on le devient. (deutsch: Man wird als Frau nicht geboren, sondern wird es.) Danach wären Transsexuelle diejenigen, die sich die angeborene Zweideutigkeit erhalten. Diese Theorie wird heute kaum noch vertreten. Nicht nur stehen ihr zu viele biologische Fakten entgegen, auch die meisten Transsexuellen lehnen sie ab. Sie empfinden sich nicht unentschieden, sondern meist eindeutiger als Frau bzw. Mann als die übrigen. Ihr Problem liegt auf einer anderen Ebene: ihre körperliche Ausstattung stimmt mit dem seelischen Selbstverständnis nicht überein.
Erziehungseffekte: Der Vater hat sich eigentlich einen Jungen gewünscht und erzieht deshalb seine Tochter „männlich". Umgekehrt werden Söhne von besitzergreifenden Müttern überbehütet und verzärtelt, vor allem wenn der Vater abwesend ist. Dadurch entwickeln vor allem sensible Jungen eine weibliche Identität.
Kultureller Protest: Nach dieser Theorie entscheiden sich einige Frauen bewußt für eine männliche Identität, um der Diskriminierung ihres Geschlechts zu entgehen. Ihr berühmtestes Vorbild ist Jeanne d’Arc. In der Literatur kommen immer wieder Frauen vor, die sich als Männer verkleiden, um etwas zu erreichen, was ihrem Geschlecht verboten ist. Denken wir nur an „Yentl" (Film mit Barbra Streisand), der Geschichte einer Jüdin, die sich als Mann ausgab, um eine Talmudschule besuchen zu können. Umgekehrt protestieren Männer gegen das Establishment und soldatische Tugenden, indem sie sich als Transvestiten geben, mit weiblichem Verhalten eine Gegenkultur etablieren. Daher die enge Verbindung von Transvestiten und Kunstszene.
Hartmut Bosinski von der Universität Kiel testete kürzlich alle Theorien an derselben Stichprobe weiblicher und männlicher „unbehandelter" Transsexueller. „Unbehandelt" meint, daß sich keiner von ihnen bisher Maßnahmen der Geschlechtsumwandlung unterzog. Dabei fand er als häufigsten Fall die Kopplung von angeborenem Streß mit Erziehungseffekten. Das heißt, trifft ein Kind mit uneindeutiger Geschlechtsidentität auf Umstände, die einen Wechsel des Geschlechts fördern (wie der Vater, der seine Tochter lieber als Sohn sehen möchte), so steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sich Transsexualität entwickelt. Aber es zeigte sich auch, daß es immer wieder Transsexuelle gibt, bei der sich überhaupt keine auslösende Ursache finden läßt.
Die meisten Faktoren haben nur einen statistischen Effekt, der nicht viel über den Einzelfall sagt. Ein Beispiel: Bei den Frau-zu-Mann-Transsexuellen fand Bosinski in 83 Prozent der Fälle einen erhöhten männlichen Hormonspiegel. Gut, aber warum wurden die übrigen 17 Prozent transsexuell? Und: Bei nicht Transsexuellen haben immerhin 33 Prozent der Frauen ebenfalls einen erhöhten männlichen Hormonspiegel. Warum haben sie kein Bedürfnis nach einem Wechsel ihrer Geschlechtsidentität?
Vielleicht liegt der Grund in der Erziehung? Tatsächlich entstammen überdurchschnittliche viele Transsexuelle vaterlosen Familien. Viele können sich erinnern, daß ihre Mutter ein Spielverhalten förderte, daß nicht ihrem biologischen Geschlecht entsprach. Für die Frau-zu-Mann-Transsexuellen bedeutete die erste Regel seelisch eine Katastrophe. Aber auch hier handelt es sich nur um Indizien. Viel mehr, die solche Bedingungen in der Kindheit erlebten, wurden nicht transsexuell, während eine nicht unbeträchtliche Minderheit von Transsexuellen aus ganz „normalen" Elternhäusern stammt.
Wahrscheinlich gibt es keine eindeutige Ursache für den Geschlechtswechsel. Der Begriff Transexualität suggeriert, daß es sich um ein einheitliches Phänomen handelt. Aber in Wahrheit liegt nur eine äußerliche Ähnlichkeit vor, und die Gründe sind in jedem Fall anders. Um das zu verstehen, müssen wir uns nur anschauen, wie das Geschlecht des Individuums sich entwickelt.
Wir haben alle in der Schule gelernt, daß das Geschlecht genetisch festgelegt ist. Die weiblichen Eizellen tragen ausschließlich X-Chromosomen, während zwei Arten männlicher Samenzellen vorkommen, eine Hälfte trägt X-Chromosomen, die andere Hälfte Y-Chromosomen. Nach der Berfruchtung liegt entweder eine XX-Zygote („Zygote" heißt das Verschmelzungsprodukt von Ei- und Samenzelle) vor – daraus wird ein Mädchen – oder eine XY-Zygote – ein zukünftiger Junge – vor.
Wäre damit über das Geschlecht des Kindes entschieden, käme Transsexualität nicht vor. In Wirklichkeit ist der Prozeß viel komplizierter. Über das Geschlecht wird nicht nur einmal, sondern mindestens viermal in zeitlichen Abständen entschieden. Wir haben nicht nur ein (männliches oder weibliches) Geschlecht, sondern vier:
Das genetische Geschlecht: XX (weiblich) oder XY (männlich).
Das hormonelle Geschlecht: die Erbanlagen auf dem XX- bzw. XY-Chromosom sorgen zunächst nur für die Hormone, also Botenstoffe, die im Körper kreisen und die eigentliche Geschlechtsentwicklung einleiten. Fehlen männliche, also Y-Geninformationen, entstehen automatisch weibliche Hormone. Das weibliche Geschlecht ist also immer primär. Ein Junge entwickelt sich nur, wenn zu den weiblichen männliche Informationen hinzukommen. Tritt bei der Ablesung des Y-Anteils im Geschlechtschromosom ein Fehler auf, entwickelt sich wegen rein weiblicher Hormone ein Mädchen, trotz der XY-Genanlage.
Das körperliche Geschlecht: die Hormone steuern die Entwicklung der weiblichen oder männlichen Geschlechtsorgane, aber auch der entsprechenden Zentren im Gehirn. Dadurch empfinden wir später so, wie wir äußerlich gebaut sind. Tritt hier ein Fehler in der vorgeburtlichen Entwicklung auf – etwa durch Streß der Mutter – können verschiedene Abweichungen auftreten. Die männlichen Geschlechtsorgane eines XY-Kindes entwickeln sich nur teilweise. Bei der Geburt hat das Kind dann einen kleinen Penis, aber auch Schamlippen. Oder die körperliche Entwicklung ist männlich, aber das Gehirn empfindet „weiblich". Das wäre eine mögliche Ursache für Transsexuelität, aber auch für Homosexualität. Der Unterschied liegt dann in der Frage, ob nur die sexuelle Orientierung (Homosexualität) oder auch die sexuelle Identität (Transsexualität) von der Abweichung betroffen ist.
Das psychosoziale Geschlecht: Der Grundstock wird mit der vorgeburtlichen Gehirnentwicklung gelegt. Entscheidend für das Endergebnis ist aber die Erziehung. Welche Rollenmuster aus der Umgebung verbindet das Kind mit seiner angeborenen Geschlechtsidentität? Hier hat die Umwelt einen großen Einfluß. Ist das Gehirn aber durch Einwirkung der „falschen" Hormone vor der Geburt auf eine andere Identität geprägt als sein Körperbau vermuten läßt, wählt das Kind auch spontan und gegen den Widerstand der Eltern das Spielzeug, die Kleidung und typische Verhaltensweisen des anderen Geschlechts.
Wird bei allen vier Etappen der Entwicklung das genetische Geschlecht bestätigt, wird sich das Kind klar als Mann oder Frau verstehen. Wird aber mal das eine und mal das andere Geschlecht „gewählt", ist eine Form der Transsexualität das Ergebnis. Die Person fühlt sich innerlich zerrissen und von der Umwelt gedrängt, die Geschlechtsidentität zu wählen, die seinem körperlichen Äußeren entspricht. Häufig – aber nicht immer! – ist das psychosoziale Geschlecht stärker. Das Resultat: der oder die Betroffene entscheidet sich für eine Geschlechts-umwandlung, also für eine Anpassung des körperlichen an das psychische Geschlecht. Trotz der Komplikationen und zum Teil schweren Nebenwirkungen, die eine solche heikle Operation mit sich bringt.
 
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