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- Ist es ein Junge oder ein Mädchen?" So lautet sinngemäß
die erste Frage, die frischgebackene Eltern nach der Geburt an Arzt
und Krankenschwestern richten. Doch selbst da, wo die Frage aufgrund
eindeutiger körperlicher Indizien eindeutig beantwortet wird, kann sich
später herausstellen, daß das Mädchen sich beharrlich weigert, Kleider
zu tragen und mit Puppen zu spielen. Der Junge hat dagegen nichts lieber,
als sich in Mädchenkleidern vor dem Spiegel zu drehen und in das Schminkköfferchen
seiner Mutter zu greifen. Mit dem falschen Gehirn geboren, neurotisch
oder lediglich Lust an Verkleidung und Schauspielerei?
- Homosexualität und Transsexualität weisen viele Gemeinsamkeiten, insbesondere
die sexuelle Orientierung auf Angehörige des eigenen Geschlechts, weswegen
sie oft verwechselt werden. Schwule Männer und lesbische Frauen fühlen
sich aber stets als das, was sie von ihrem Äußeren her sind: als Männer
bzw. Frauen.
- Transsexualität bedeutet dagegen, daß das eigene Empfinden der Geschlechtszuschreibung
der Umwelt nicht entspricht. Der Mann fühlt sich als Frau, die Frau
fühlt sich als Mann. Deswegen sind sie nur für die Umwelt homosexuell.
Sie selbst empfinden heterosexuell: der Mann mit weiblicher Identität
interessiert sich als Frau für Männer. Und umgekehrt.
- Für Medizin und Psychologie stellt Transsexualität immer noch ein
Rätsel dar. Folgende Theorien über die Gründe für den Geschlechtswechsel
werden diskutiert:
- Gendefekt: Irgendein Gen, das die Übereinstimmung von körperlichem
und psychischem Geschlecht regelt, ist entweder defekt oder es wirkt
aufgrund eines Fehlers bei der Zellteilung in den ersten Schwangerschaftswochen
das Gen für das andere Geschlecht.
- Vorgeburtlicher Streß. Zu einem Zeitpunkt, da sich das Geschlecht
des Embryos entwickelt, war die Mutter einem Streß ausgesetzt
psychischer Mißhandlung, Angst, Mißerfolgen oder biologischen Einwirkungen
(Drogen, Alkohol, Nikotin) dadurch wurde ein wichtiger Entwicklungsschritt
bei der eindeutigen Geschlechtsfestlegung ausgelassen.
- Angeborene Bisexualität: Diese Theorie geht von der Vorstellung aus,
daß das menschliche Geschlecht prinzipiell nicht eindeutig festgelegt
ist, sondern erst die Kultur uns in bestimmte Geschlechtsrollen zwingt.
Von Simone de Beauvoir stammt der Satz: On ne naît pas femme: on le
devient. (deutsch: Man wird als Frau nicht geboren, sondern wird es.)
Danach wären Transsexuelle diejenigen, die sich die angeborene Zweideutigkeit
erhalten. Diese Theorie wird heute kaum noch vertreten. Nicht nur stehen
ihr zu viele biologische Fakten entgegen, auch die meisten Transsexuellen
lehnen sie ab. Sie empfinden sich nicht unentschieden, sondern meist
eindeutiger als Frau bzw. Mann als die übrigen. Ihr Problem liegt auf
einer anderen Ebene: ihre körperliche Ausstattung stimmt mit dem seelischen
Selbstverständnis nicht überein.
- Erziehungseffekte: Der Vater hat sich eigentlich einen Jungen gewünscht
und erzieht deshalb seine Tochter männlich". Umgekehrt werden
Söhne von besitzergreifenden Müttern überbehütet und verzärtelt, vor
allem wenn der Vater abwesend ist. Dadurch entwickeln vor allem sensible
Jungen eine weibliche Identität.
- Kultureller Protest: Nach dieser Theorie entscheiden sich einige Frauen
bewußt für eine männliche Identität, um der Diskriminierung ihres Geschlechts
zu entgehen. Ihr berühmtestes Vorbild ist Jeanne dArc. In der
Literatur kommen immer wieder Frauen vor, die sich als Männer verkleiden,
um etwas zu erreichen, was ihrem Geschlecht verboten ist. Denken wir
nur an Yentl" (Film mit Barbra Streisand), der Geschichte
einer Jüdin, die sich als Mann ausgab, um eine Talmudschule besuchen
zu können. Umgekehrt protestieren Männer gegen das Establishment und
soldatische Tugenden, indem sie sich als Transvestiten geben, mit weiblichem
Verhalten eine Gegenkultur etablieren. Daher die enge Verbindung von
Transvestiten und Kunstszene.
- Hartmut Bosinski von der Universität Kiel testete kürzlich alle Theorien
an derselben Stichprobe weiblicher und männlicher unbehandelter"
Transsexueller. Unbehandelt" meint, daß sich keiner von ihnen
bisher Maßnahmen der Geschlechtsumwandlung unterzog. Dabei fand er als
häufigsten Fall die Kopplung von angeborenem Streß mit Erziehungseffekten.
Das heißt, trifft ein Kind mit uneindeutiger Geschlechtsidentität auf
Umstände, die einen Wechsel des Geschlechts fördern (wie der Vater,
der seine Tochter lieber als Sohn sehen möchte), so steigt die Wahrscheinlichkeit,
daß sich Transsexualität entwickelt. Aber es zeigte sich auch, daß es
immer wieder Transsexuelle gibt, bei der sich überhaupt keine auslösende
Ursache finden läßt.
- Die meisten Faktoren haben nur einen statistischen Effekt, der nicht
viel über den Einzelfall sagt. Ein Beispiel: Bei den Frau-zu-Mann-Transsexuellen
fand Bosinski in 83 Prozent der Fälle einen erhöhten männlichen Hormonspiegel.
Gut, aber warum wurden die übrigen 17 Prozent transsexuell? Und: Bei
nicht Transsexuellen haben immerhin 33 Prozent der Frauen ebenfalls
einen erhöhten männlichen Hormonspiegel. Warum haben sie kein Bedürfnis
nach einem Wechsel ihrer Geschlechtsidentität?
- Vielleicht liegt der Grund in der Erziehung? Tatsächlich entstammen
überdurchschnittliche viele Transsexuelle vaterlosen Familien. Viele
können sich erinnern, daß ihre Mutter ein Spielverhalten förderte, daß
nicht ihrem biologischen Geschlecht entsprach. Für die Frau-zu-Mann-Transsexuellen
bedeutete die erste Regel seelisch eine Katastrophe. Aber auch hier
handelt es sich nur um Indizien. Viel mehr, die solche Bedingungen in
der Kindheit erlebten, wurden nicht transsexuell, während eine nicht
unbeträchtliche Minderheit von Transsexuellen aus ganz normalen"
Elternhäusern stammt.
- Wahrscheinlich gibt es keine eindeutige Ursache für den Geschlechtswechsel.
Der Begriff Transexualität suggeriert, daß es sich um ein einheitliches
Phänomen handelt. Aber in Wahrheit liegt nur eine äußerliche Ähnlichkeit
vor, und die Gründe sind in jedem Fall anders. Um das zu verstehen,
müssen wir uns nur anschauen, wie das Geschlecht des Individuums sich
entwickelt.
- Wir haben alle in der Schule gelernt, daß das Geschlecht genetisch
festgelegt ist. Die weiblichen Eizellen tragen ausschließlich X-Chromosomen,
während zwei Arten männlicher Samenzellen vorkommen, eine Hälfte trägt
X-Chromosomen, die andere Hälfte Y-Chromosomen. Nach der Berfruchtung
liegt entweder eine XX-Zygote (Zygote" heißt das Verschmelzungsprodukt
von Ei- und Samenzelle) vor daraus wird ein Mädchen oder
eine XY-Zygote ein zukünftiger Junge vor.
- Wäre damit über das Geschlecht des Kindes entschieden, käme Transsexualität
nicht vor. In Wirklichkeit ist der Prozeß viel komplizierter. Über das
Geschlecht wird nicht nur einmal, sondern mindestens viermal in zeitlichen
Abständen entschieden. Wir haben nicht nur ein (männliches oder weibliches)
Geschlecht, sondern vier:
- Das genetische Geschlecht: XX (weiblich) oder XY (männlich).
- Das hormonelle Geschlecht: die Erbanlagen auf dem XX- bzw. XY-Chromosom
sorgen zunächst nur für die Hormone, also Botenstoffe, die im Körper
kreisen und die eigentliche Geschlechtsentwicklung einleiten. Fehlen
männliche, also Y-Geninformationen, entstehen automatisch weibliche
Hormone. Das weibliche Geschlecht ist also immer primär. Ein Junge entwickelt
sich nur, wenn zu den weiblichen männliche Informationen hinzukommen.
Tritt bei der Ablesung des Y-Anteils im Geschlechtschromosom ein Fehler
auf, entwickelt sich wegen rein weiblicher Hormone ein Mädchen, trotz
der XY-Genanlage.
- Das körperliche Geschlecht: die Hormone steuern die Entwicklung der
weiblichen oder männlichen Geschlechtsorgane, aber auch der entsprechenden
Zentren im Gehirn. Dadurch empfinden wir später so, wie wir äußerlich
gebaut sind. Tritt hier ein Fehler in der vorgeburtlichen Entwicklung
auf etwa durch Streß der Mutter können verschiedene Abweichungen
auftreten. Die männlichen Geschlechtsorgane eines XY-Kindes entwickeln
sich nur teilweise. Bei der Geburt hat das Kind dann einen kleinen Penis,
aber auch Schamlippen. Oder die körperliche Entwicklung ist männlich,
aber das Gehirn empfindet weiblich". Das wäre eine mögliche
Ursache für Transsexuelität, aber auch für Homosexualität. Der Unterschied
liegt dann in der Frage, ob nur die sexuelle Orientierung (Homosexualität)
oder auch die sexuelle Identität (Transsexualität) von der Abweichung
betroffen ist.
- Das psychosoziale Geschlecht: Der Grundstock wird mit der vorgeburtlichen
Gehirnentwicklung gelegt. Entscheidend für das Endergebnis ist aber
die Erziehung. Welche Rollenmuster aus der Umgebung verbindet das Kind
mit seiner angeborenen Geschlechtsidentität? Hier hat die Umwelt einen
großen Einfluß. Ist das Gehirn aber durch Einwirkung der falschen"
Hormone vor der Geburt auf eine andere Identität geprägt als sein Körperbau
vermuten läßt, wählt das Kind auch spontan und gegen den Widerstand
der Eltern das Spielzeug, die Kleidung und typische Verhaltensweisen
des anderen Geschlechts.
- Wird bei allen vier Etappen der Entwicklung das genetische Geschlecht
bestätigt, wird sich das Kind klar als Mann oder Frau verstehen. Wird
aber mal das eine und mal das andere Geschlecht gewählt",
ist eine Form der Transsexualität das Ergebnis. Die Person fühlt sich
innerlich zerrissen und von der Umwelt gedrängt, die Geschlechtsidentität
zu wählen, die seinem körperlichen Äußeren entspricht. Häufig
aber nicht immer! ist das psychosoziale Geschlecht stärker. Das
Resultat: der oder die Betroffene entscheidet sich für eine Geschlechts-umwandlung,
also für eine Anpassung des körperlichen an das psychische Geschlecht.
Trotz der Komplikationen und zum Teil schweren Nebenwirkungen, die eine
solche heikle Operation mit sich bringt.
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